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Sozialraumorientierung

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Inhaltsverzeichnis

Sozialraumorientierung

Unterstützungsbedarf in einem Lebensbereich sollte ausreichend sein

Ich finde es für meine KlientInnen schwer vermittelbar, dass sie nur leistungsberechtigt sein werden, wenn sie Unterstützung in mehreren Lebensbereichen brauchen. Grundsätzlich sollten doch alle Menschen, die Unterstützung erhalten, die sie für ein "gutes Leben" brauchen. Auch wenn es "nur" die Unterstützung in einem Lebensfeld ist. Für die/den Einzelnen kann diese fehlende Unterstützung schon eine große Beeinträchtigung darstellen.



Antwort:

Unterstützungsbedarf nur in einem Lebensbereich in Einzelfällen denkbar

Ihre Argumentation ist sehr gut nachvollziehbar. Die Ergebnisse unseres Forschungsprojektes zeigen, dass die einzelnen Lebensbereiche der ICF nicht trennscharf nebeneinanderstehen, sondern deren Inhalte vielfältig und wechselseitig miteinander verwoben sind. Deswegen dürfte es nur in wenigen Fällen möglich sein, von einem Unterstützungsbedarf nur in einem Lebensbereich auszugehen. Allerdings ist auch dieser Fall denkbar. U.a. aus diesen Gründen haben wir folgenden vorläufigen Vorschlag für eine neue Formulierung des § 99 BTHG unterbreitet: „Eine erhebliche Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe besteht, wenn die beeinträchtigte Person relevante praktische Lebensvollzüge in mindestens einem Lebensbereich nach Absatz 4 nicht ohne personelle oder technische Hilfe ausführen kann und nur durch personelle oder technische Unterstützung die Ausführung dieser Lebensvollzüge ermöglicht oder verbessert werden kann oder einer Verschlechterung vorgebeugt werden kann“ (BT-Drs. 19/4500: 91).

Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe bei Säuglingen, Klein- und Kindergartenkindern

Der folgende Diskussionsbeitrag bezieht sich auf die Leistungsberechtigung von Säuglingen, Klein- und Kindergartenkindern. Er nimmt engen Bezug zur BT-Drucksache 18/9954 (Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, Drucksache 18/9522).

Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum BTHG-Entwurf darauf hingewiesen, dass es weder möglich noch sinnvoll sei, wesentliche Teilhabebeschränkungen von Kindern im Vorschulalter nach Anzahl und Schweregrad derjenigen Teilhabekriterien vorzunehmen, die für Schulkinder oder Erwachsene bedeutsam sind. Dies würde zu einer Verschärfung der Zugangsvoraussetzungen sowie zu einem Rückgang von Einzel- und Komplexleistungen im Rahmen der Früherkennung und Frühförderung führen. In der Folge wäre auch der präventive Ansatz der interdisziplinären Frühförderung gefährdet. Für die Bewilligung von Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung, so die Empfehlung des Bundesrats, müsse es bereits ausreichend sein, wenn die Folgen einer (drohenden) Behinderung gemildert würden. „Es muss daher klargestellt werden, dass § 79 SGB IX-E lex specialis zu § 99 SGB IX-E ist und bei den Heilpädagogischen Leistungen für Frühförderkinder nach wie vor keine hohe Wahrscheinlichkeit einer erheblichen, drohenden Teilhabebeschränkung erforderlich ist, um den Leistungstatbestand auszulösen“ (vgl. Drucksache 18/9954, S. 14-15). Die Bundesregierung ist dieser Einschätzung gefolgt (s. Drucksache 18/9954, S. 65).



Antwort:

Antwort aus rechtlicher und sozialmedizinischer Sicht

Wir beantworten die Frage aus rechtlicher und aus sozialmedizinischer Sicht.

Aus rechtlicher Sicht ist sehr fraglich, ob der Bundesregierung und dem Gesetzgeber die nach BT-Drucks. 18/9954, 65 gewünschte Änderung im Sinne des Bundesrats gelungen ist. Das Wort „Leistungsberechtigte“ wurde im Vergleich zur Entwurfsfassung gestrichen. Der Ausschussbericht gibt jedoch keine klare Aussage zum Sinn dieser Änderung (BT-Drucks. 18/10523, 56). Zudem kann kaum gemeint sein, dass Leistungen an nicht leistungsberechtigte Personen erbracht werden. Über die Anspruchsberechtigung wird jedoch nach § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB IX nicht in Teil 1 SGB IX, sondern in Teil 2 entschieden. § 79 SGB IX kann insoweit nicht lex specialis zu § 99 SGB IX sein. Das Problem wäre erst gelöst, wenn es zu einer Änderung von § 99 SGB IX kommt.

Aus sozialmedizinischer Sicht ist zunächst darauf hinzuweisen, dass in vielen Fällen einer heilpädagogischen Leistung eine medizinische Leistung zur Früherkennung und Frühförderung vorausgeht, die neben den medizinischen Leistungen nach § 46 Abs. 1 Nr.1 SGB IX auch nichtärztliche Leistungen umfasst, die nach § 43 a Abs. 1 SGB IX als sozialpädiatrische Leistungen erbracht werden. Ergebnis ist ein Behandlungsplan, der die Leistungsgrundlage für Leistungen sowohl nach § 46 SGB IX sein kann als auch für Leistungen nach § 79 SGB IX. Ein Behandlungsplan umfasst dann die Leistungen, die erforderlich sind, um die Ziele auch nach § 79 SGB IX zu erreichen.

Zur Erstellung des Behandlungsplanes, die übrigens auch von Kinderärzten, Gesundheitsämtern u.a. Stellen erfolgen kann, werden Feststellungen zur Behinderung oder drohenden Behinderung getroffen, die in der Regel den Kriterien des § 13 SGB IX entsprechen. Sie liefern also die Grundlagen für eine Leistungsentscheidung im Hinblick auf die Leistungen der Frühförderung. Zudem ermitteln die Frühförderstellen ebenfalls den Bedarf umfassend, bevor sie tätig werden.

Bei diesem Vorgehen handelt es sich um einen in der Regel niedrigschwelligen Zugang, der unbedingt beibehalten werden sollte. Dabei wird regelhaft von der gesetzlichen Option Gebrauch gemacht, Leistungen auch bei drohender Behinderung erbringen zu können. Eine besondere Prüfung der Wesentlichkeit erfolgt hier nicht.

Es erscheint nicht sinnvoll, und ist auch gesetzlich nicht zwingend erforderlich, dieses bewährte Verfahren durch ein standardisiertes, an anderen Problemlagen orientiertes allgemeines Teilhabe- oder Gesamtplanverfahren zu ersetzen. Das bisherige, in den einzelnen Bundesländern jeweils unterschiedlich geregelte Verfahren ist mit dem BTHG vereinbar. 

Leistungsberechtigung bei Menschen mit einem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS)

Mit der Anlehnung an die ICF wird m.M. nach ein wesentlicher hilfebedürftiger Personenkreis ausgeschlossen. Menschen mit einem Fetalen Alkoholsyndrom, FAS/ FASD. Hier reden wir von zur Zeit ungefähr 10 000 Geburten per Anno mit anerkanntem FASD, davon ca. 4000 Menschen mit einem Vollbild. Die Schätzung der Dunkelziffer beträgt konservativ noch einmal ca. 10/15 tsd Geburten in D pro Jahr. Hier einmal eine Listung der neurologischen, mentalen und psychopathogenen Störungen und ihrer Gewichtung bei Menschen mit einem FASD Syndrom.

Geistige Entwicklungsverzögerung

89% (Lö), 83% (Maj), 93% (Sp)

Sprachstörungen

80% (Shaywitz et al. 1984)

Hörstörungen

ca.20% (Lö)

Eß- und Schluckstörungen

ca.30% (Lö)

Schlafstörungen, Pavor nocturnus

ca.40% (Lö)

Muskul. Hypotonie, Muskeldysplasie

57% (Maj), 65% (Sp)

Verminderte Schmerzempfindlichkeit

ca.20% (Lö)

Feinmotorische Dysfunktion

ca.80% (Lö)

Krampfanfälle

6% (Lö)

Verhaltensstörungen

Hyperaktivität, Hyperexzitabilität

72% (Lö), 72% (Sp), 74% (Maj)

Distanzlosigkeit, Vertrauensseligkeit

ca.50% (Lö)

Erhöhte Risikobereitschaft, Waghalsigkeit

ca. 40%

Autismus

3% (Lö)

Aggressivität, dissoziales Verhalten

ca.3% (Lö)

Emotionale Instabilität

ca. 30%

Quelle: Uni due.2001

Dazu kommen noch teilweise organische Fehlbildungen/Probleme wie z.B. Enuresis, Enkopresis, Missbildungen an inneren Organen etc.

Das Problem für die Anerkennung als Behinderung sind zum einen die individuell unterschiedlich ausgeprägten Einschränkungen im Individuum, andererseits dass betroffene Menschen sehr wohl über einen normalen IQ verfügen, auch sonst über keine definierten Behinderungsmerkmale verfügen, aber aufgrund ihrer mentalen Schädigung nicht alleine am Leben teilhaben können. Hierzu verweise ich auf die aktuellen Unfall- bzw. Delinquent- Untersuchungen. Eine weitere (Kurz)-Informationsquelle wäre:

Fasq.eu

sowie u.a. die Veröffentlichung von : Dr Feldmann , Fetales Alkoholsyndrom, Berlin 2012.

Nach derzeitiger Definition von ICF würde damit eine der zahlenmäßig größten Gruppen von Menschen mit Behinderungen aus der Definition – und den damit verbundenen notwendigen Hilfestellungen ausgeschlossen.

Selbst wenn dies z.B. aus finanziellen Gründen gewünscht ist, wäre das m.M. nach eine recht kurzfristige Sichtweise. Ich behaupte mal kühn, dass die Folgekosten in Justiz, Krankenkassen und für komorbide Störungen volkswirtschaftlich deutlich höher liegen als bei einer direkten Hilfestellung für die Menschen mit FAS.

Ein weiteres Faktum bei Kindern/Jugendlichen mit FASD ist, dass über 80% der Betroffenen (ohne Dunkelziffer) nicht bei den leiblichen Eltern leben, sondern in Pflege, Adoptivfamilien sowie Einrichtungen der Jugendhilfe leben. Diesem Umstand müsste hier auch dringend Rechnung getragen werden, da diese Familien einen erheblichen Anteil z.Z. weitestgehend unhonoriert, an gesamtgesellschaftlichen Aufgaben „übernommen“ haben.



Antwort:

FAS im Rahmen der ICF und des Abschlussberichts

Mit Hilfe des bio-psycho-sozialen Modells der ICF können die Wechselwirkungen unterschiedlicher Komponenten bei einer diagnostizierten Gesundheitsstörung beschrieben werden. Komponenten sind die Körperfunktionen und -strukturen, die Aktivitäten und Teilhabe sowie die Kontextfaktoren. Die von ihnen im Zusammenhang mit einem fetalen Alkoholsyndrom im Zusammenhang stehenden Schädigungen der körperlichen Funktionen und Beeinträchtigungen der Aktivitäten können unseres Erachtens voll umfänglich mit Hilfe der ICF beschrieben werden. Hinzu kommen noch die Folgen der Wechselwirkungen der Umweltfaktoren sowie personbezogener Faktoren mit den beschriebenen Schädigungen bzw. Beeinträchtigungen, die in der Gesamtbetrachtung ein realistisches Bild einer im individuellen Fall bestehenden Teilhabebeeinträchtigung geben. Aus sozialmedizinischer Sicht ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass sich die funktionellen Beeinträchtigungen beim FAS nicht immer leicht erkennen und zuordnen lassen. Nicht selten wird von den Betroffenen auch die Diagnose FAS ungern angegeben. Es kommt deshalb darauf an, die Beeinträchtigungen möglichst genau zu beschreiben und der zugrundeliegenden Gesundheitsstörung zuzuordnen. Dann kann man die Auswirkungen auf die Teilhabe im Zusammenwirken mit den Kontextfaktoren gut erfassen und in der ICF vollständig abbilden.

Dies hat sich auch in der Untersuchung zum Personenkreis nach Art 25a BTHG  (BT-Drucksache 19/4500) gezeigt, wo sich bei der Aktenanalyse eine ganze Reihe von Menschen mit FAS fanden, bei denen die Teilhabebeeinträchtigungen ausreichend gut erfasst wurden.

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