Das BTHG und die Trennung von Fach- und existenzssichernden Leistungen

Paradigmenwechsel/Systemwechsel

Das neue SGB IX

Das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen wird kurz als Bundesteilhabegesetz oder BTHG bezeichnet. Es soll mit seinen umfangreichen Rechtsänderungen dazu beitragen, Menschen mit Behinderungen eine möglichst volle und wirksame Teilhabe in allen Bereichen zu ermöglichen. Ausgangspunkt ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Das BTHG entwickelt das deutsche Recht orientiert an der UN-BRK weiter. Diese Änderungen stehen im Sozialgesetzbuch IX (SGB IX).

Was erfahre ich hier?

Ziele des BTHG

Ein Ziel der rechtlichen Änderungen durch das BTHG ist, dass Menschen mit Behinderungen ihr Leben möglichst selbstbestimmt gestalten können. Das zweite Ziel ist: Die bestehende Ausgabendynamik soll gebremst und eine neue Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe verhindert werden. Dies erfolgt u.a. dadurch, dass Länder und Kommunen sollen besser steuern können, wie und welche Leistungen aus der Eingliederungshilfe finanziert werden. So soll die bestehende Ausgabendynamik gebremst und eine neue Kostensteigerung in der Eingliederungshilfe verhindert werden. Mit dem BTHG vollzieht das deutsche Sozialrecht daher einen Perspektivwechsel und einen Systemwechsel.

 

Der Perspektivwechsel

Das BTHG übernimmt den Behinderungsbegriff aus der UN-Behindertenrechtskonvention. Behinderung entsteht demnach aus der Wechselwirkung zwischen einer Person mit einer längerfristigen Beeinträchtigung und ihrer physischen und sozialen Umwelt. Dieses Verständnis von Behinderung hat zu wichtigen Änderungen in den Verwaltungsverfahren der Eingliederungshilfe (Gesamtplanverfahren) und anderer Reha-Träger (Teilhabeplanverfahren) geführt.

 

Der Systemwechsel

Bis 2020 war die Eingliederungshilfe Teil der Sozialhilfe. Seit 2020 sind die reformierten Leistungen der Eingliederungshilfe in einem eigenen Leistungsrecht angesiedelt – dem Teil 2 des Sozialgesetzbuch IX. Um ein Recht auf Eingliederungshilfe zu haben, müssen Menschen mit Behinderungen nicht mehr mittellos sein. Für leistungsberechtigte Personen, deren Einkommen nicht zum Leben reicht, bedeutet das, sie erhalten nun Grundsicherung vom Träger der Sozialhilfe und Fachleistungen der Eingliederungshilfe. Wer seinen Lebensunterhalt selbst finanziert, wird durch die geänderte Anrechnung von Einkommen und Vermögen für Fachleistungen der Eingliederungshilfe entlastet.

Durch den Systemwechsel war zudem ein neues Vertragsrecht nötig, auf dessen Basis Träger der Eingliederungshilfe und Leistungserbringer ihre Vereinbarungen schließen.

Wichtige Änderungen hat der Bundesgesetzgeber außerdem bei der Beratung von Menschen mit Behinderungen vorgenommen.

Teil des Systemwechsels ist auch, dass die Fachleistungen der Eingliederungshilfe teils erweitert, teils präzisiert wurden. Diese können von Menschen mit Behinderungen nach ihrem individuellen Bedarf als einzelne Module in Anspruch genommen oder kombiniert werden. Zu den Fachleistungen der Eingliederungshilfe gehören Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Leistungen zur Teilhabe an Bildung, Leistungen zur Sozialen Teilhabe und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation.

Wie wirkt sich der Systemwechsel auf die Beziehungen zwischen Leistungsträgern, Leistungserbringern und Leistungsberechtigten aus?

Das Bild ist eine Illustration in Schwarz-Weiß mit einzelnen in Farbe hervorgehobenen Elementen. Die Illustration zeigt eine mehrstöckige Torte, von der sich verschiedene Kuchenstücke genommen werden.

© Anke Seeliger

Mit dem BTHG schafft der Bundesgesetzgeber gleiche Voraussetzungen für alle Menschen mit Behinderungen: Sie erhalten Fachleistungen der Eingliederungshilfe unabhängig davon, ob sie in der eigenen Wohnung oder in stationären Einrichtungen, jetzt besonderen Wohnformen, leben. Diese Änderung wird als Trennung der Fach- und existenzsichernden Leistungen bezeichnet.

Bis Ende 2019 waren die Fachleistungen der Eingliederungshilfe an die Leistungsvoraussetzungen der Sozialhilfe geknüpft: Nur wer bedürftig im Sinne des zwölften Sozialgesetzbuchs war, konnte Eingliederungshilfe erhalten. Nun sind Eingliederungs- und Sozialhilfe getrennt. Im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe, den Leistungserbringern und dem Menschen mit Behinderungen geht es nun einzig um die Fachleistungen der Eingliederungshilfe. Welche individuellen Fachleistungen ein Mensch mit Behinderungen benötigt und von welchem Leistungserbringer er diese Leistungen erhalten kann, ermittelt der Träger der Eingliederungshilfe gemeinsam mit der leistungsberechtigten Person im Gesamtplanverfahren.

Die Trennung von Fach- und existenzsichernden Leistungen hatte zur Folge, dass die Träger der Eingliederungshilfe und die Leistungserbringer neue Landesrahmenverträge sowie Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen verhandeln mussten.

Welche Folgen hat die Trennung der Leistungen für den Träger der Eingliederungshilfe?

Vor dem Systemwechsel hat der Träger der Eingliederungshilfe die Komplexleistung Eingliederungshilfe an den Leistungserbringer gezahlt. Darin enthalten waren alle Kosten für Wohnen, Essen und Fachleistungen. Nun kann der Träger der Eingliederungshilfe mit Hilfe des Gesamtplans besser steuern, welche Leistungen Menschen mit Behinderungen von Leistungserbringern erhalten und welche Kosten dafür entstehen. Anhand des Gesamtplans kann der Träger der Eingliederungshilfe außerdem die Wirkung der Leistungen überprüfen. Das heißt, er prüft, ob die vereinbarten Ziele mit den Leistungen erreicht werden.

Welche Folgen hat die Trennung der Leistungen für Leistungserbringer?

Leistungserbringer sind nun oft Anbieter von Wohnraum, also Vermieter, und Anbieter von Fachleistungen. Diese Angebote betriebswirtschaftlich zu trennen, war und ist für die Leistungserbringer eine große Herausforderung. Um sich wirtschaftlich abzusichern, müssen Leistungserbringer ihre Angebote flexibler aufbauen und Leistungen fachlich und inhaltlich weiterentwickeln. Das ist zugleich eine Chance für Leistungserbringer: Mit neuen, passgenauen Angeboten können sie sich Wettbewerbsvorteile sichern.

Welche Folgen hat die Trennung der Leistungen für leistungsberechtigte Personen?

Die leistungsberechtigte Person erhält auf Basis des Leistungsbescheids ihre Fachleistungen. Welcher Leistungserbringer diese Fachleistungen erbringt, entscheidet die Person selbst. Unabhängig davon wählt der Mensch mit Behinderungen die für ihn passende Wohnform. Wer nicht in einer besonderen Wohnform, sondern in einer WG oder in der eigenen Wohnung leben möchte, kann dies tun.

Ist ein Mensch mit Behinderungen voll erwerbsgemindert und kann seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen finanzieren, beantragt er beim Träger der Grundsicherung existenzsichernde Leistungen. Diese enthalten in erster Linie die Kosten für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und die Kosten der Unterkunft.

Herausforderungen in der Umsetzung

  • Flächenzuordnung: Trotz existierender Empfehlungen auf Bundes- und Verbandsebene ist die Zuordnung der Flächen zu Wohn- und Fachleistungsflächen für Leistungserbringer noch mit vielen Fragen versehen.
  • Ermittlung einer kalkulatorischen Miete: Die Ermittlung eines Preises für die Wohnraumnutzung ist in besonderen Wohnformen, mit ihren besonderen baulichen Anforderungen und Kosten der Gebäudenutzung, aber auch im Hinblick auf Lage und sonstige Bebauung besonders schwierig.
  • Ermittlung des Barbetrags: Die bisherige Komplexleistung muss von den Leistungsanbietern aufgeschlüsselt und regelbedarfsrelevante Leistungen unter Berücksichtigung von  Mehrbedarfen herausgelöst werden. Dann kann der „Barbetrag“ ermittelt werden, der bei der leistungsberechtigten Person verbleibt.
  • Künftige Angebotsstruktur: Um Leistungen künftig passgenauer erbringen zu können, müssen zunächst die bislang erbrachten, aber auch künftig erforderliche Leistungen beschrieben und zu den Leistungsgruppen der §§ 109 ff. SGB IX zugeordnet werden. Leistungsträger und Leistungserbringer arbeiten gemeinsam an der Weiterentwicklung der Leistungsstruktur, um sicherzustellen, dass der festgestellte Bedarf einer leistungsberechtigten Person im Einzelfall tatsächlich gedeckt wird und sie über die Verwendung ihrer Einkünfte (Erwerbseinkommen, Rente, Grundsicherung) möglichst selbst bestimmen kann.

BTHG-Kompass

Mehr zur Leistungstrennung

Viele Antworten auf Fragen aus der Praxis zur Trennung von Fach- und existenzsichernden Leistungen finden Sie im BTHG-Kompass.

Links und Materialien Trennung von Fach- und existenzsichernden Leistungen

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