FD Soziale Teilhabe

14. Januar bis 8. Februar 2019

Soziale Teilhabe

Mit dem BTHG soll das überkommene Fürsorgesystem in Deutschland durch ein modernes Teilhaberecht abgelöst werden. Kernstück dieser Reform ist, die Leistungen der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII, dem Recht der Sozialhilfe, herauszulösen und im SGB IX zu verankern. Ziel des BTHG ist es, die Möglichkeiten einer individuellen und den persönlichen Wünschen entsprechenden Lebensplanung und -gestaltung zu stärken (BT-Drs. 18/9522: 191).

Soziale Teilhabe vor dem BTHG

Die „Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ war bisher Teil der Eingliederungshilfeleistung, aber in ihrem Umfang und in ihrer Ausgestaltung zum Teil nicht besonders konkret beschrieben. Im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung hat jeder Träger in gewissem Umfang bestimmen können, welche Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erforderlich sind und welche nicht. Art und Umfang der Leistungen weisen zum Teil Unterschiede auf. 
 

Soziale Teilhabe im SGB IX

Mit der Gesetzesänderung wird die Leistungsgruppe „Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ (§ 55 SGB IX i.d.F. bis 31. Dezember 2017) umbenannt in „Leistungen zur Sozialen Teilhabe“. Bisher waren die Leistungen zur Sozialen Teilhabe in SGB IX und SGB XII geregelt und in der Eingliederungshilfe-Verordnung konkretisiert. Künftig werden sie in Teil 1 des SGB IX (§§ 76 ff. SGB IX) und für die Eingliederungshilfe ab 2020 in Teil 2 des SGB IX (§§ 113 ff. SGB IX) zusammengefasst und neustrukturiert. 
Leistungsausweitungen sind mit der Zusammenführung jedoch nicht verbunden (BMAS 2018a: 43). Vielmehr wurden bislang unbenannte und zum Teil durch die Rechtsprechung entwickelte Leistungstatbestände explizit gesetzlich geregelt und gelten nunmehr für alle Rehabilitationsträger, die Leistungen der sozialen Teilhabe erbringen gleichermaßen. 
 

Nachrang

Leistungen zur Sozialen Teilhabe erhält, wer die entsprechenden Bedarfe nicht durch Leistungen anderer Sozialleistungsträger oder auf andere Weise decken kann. Für Personen, die keine Reha-Ansprüche an andere Träger haben und auf die Eingliederungshilfe angewiesen sind, sind Leistungen zur Sozialen Teilhabe oft das einzige Leistungssystem (BMAS 2018b: 68). 
Die Leistungen vervollständigen die übrigen Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe. Eingebettet ins Gesamtplan-und Teilhabeplanverfahren wird es künftig auch für Menschen mit höherem Einkommen oder Vermögen möglich sein, Leistungen zur Sozialen Teilhabe zu erlangen. 
Das Nachrangprinzip bleibt wie bisher erhalten und ist für die Eingliederungshilfe künftig in § 91 SGB IX geregelt.
 

Leistungskatalog

Für die Träger der Eingliederungshilfe sind die Leistungen zur Sozialen Teilhabe in den §§ 113ff. SGB IX enthalten und treten gemäß BTHG ab 2020 in Kraft. Nach § 113 Abs. 2 SGB IX i.V.m. §§ 77 bis 84 SGB IX sind Leistungen zu Sozialen Teilhabe insbesondere:

  • Leistungen für Wohnraum (§ 77)
  • Assistenzleistungen (§ 78)
  • Heilpädagogische Leistungen für Kinder (§ 79)
  • Leistungen zur Betreuung einer Pflegefamilie (§ 80)
  • Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten (§ 81)
  • Leistungen zur Förderung von Verständigung (§ 82)
  • Leistungen zur Mobilität (§ 83 i.V.m. § 114)
  • Hilfsmittel (§ 84)
  • Besuchshilfen (§ 85 i.V.m. § 115)

Die Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden damit „deutlich differenzierter beschrieben als in den bisherigen Regelungen zur Eingliederungshilfe“ (Engel 2018: 8). Der Katalog der Leistungen ist nicht abschließend, sodass auch künftig Raum für ganz individuelle Bedarfe bleibt, die auf andere Weise nicht gedeckt werden können.   

 

Leistungen für Wohnraum (§ 77 SGB IX)

Mit den neuen „Leistungen für Wohnraum“ (§ 77 SGB IX) unterstützt der Gesetzgeber Menschen mit Behinderungen bei der Suche nach geeignetem Wohnraum und es ist erstmals gesetzlich normiert, dass aufgrund der Notwendigkeit von Assistenzleistungen ein Mehrbedarf an Wohnraum bestehen kann. Die Vorschrift bestimmt ferner, dass es Leistungen zum Umbau und zur Ausstattung von Wohnungen gibt. Insoweit wird die Leistung künftig von den Leistungen der Pflegeversicherung nach § 40 Abs. 4 SGB XI abzugrenzen sein, falls ein Mensch mit Behinderung auch pflegebedürftig ist.
 

Assistenzleistungen (§ 78 SGB IX)

Die Assistenzleistungen gelten als ein Kernstück der Leistungen zur Sozialen Teilhabe (ebd.). Gemäß § 78 SGB IX dienen diese der selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltages einschließlich der Tagesstrukturierung. Die Assistenzleistungen werden erstmals im Gesetz erwähnt und umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags (z.B. Haushaltsführung, Gestaltung sozialer Beziehungen, persönliche Lebensplanung, Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, Freizeitgestaltung) sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten sowohl kompensatorische (§ 78 (2) Punkt 1 SGB IX) als auch qualifizierte Assistenzleistungen (§ 78 (2) Punkt 2 SGB IX). Erstmals umfasst sind ebenfalls Leistungen an Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Betreuung und Versorgung ihrer Kinder (§ 78 (3) SGB IX) sowie Leistungen zur Erreichbarkeit (Rufbereitschaft, Nachtwache) – unabhängig von einer konkreten Inanspruchnahme von Leistungen (§ 78 (6) SGB IX).
 

Heilpädagogische Leistungen (§ 79 SGB IX)
Heilpädagogische Leistungen für Kinder im Vorschulalter waren bereits bislang in § 55Abs. 2 Nr.2 i.V.m. § 56 SGB IX geregelt und sind nunmehr in § 79 SGB IX verankert. Die Vorschrift ist eine Ausgestaltung der Rechtsgedanken aus § 3 SGB IX (Vorrang der Prävention) und § 12 SGB IX (Frühzeitige Bedarfserkennung).   
 

Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie (§ 80 SGB IX)
§ 80 SGB IX-neu übernimmt die bisherige Regelung in § 54 Abs. 3 SGB XII bzgl. der Betreuung in einer Pflegefamilie für Minderjährige und dehnt sie ausdrücklich auf Volljährige aus. Auf diese Weise wird klargestellt, dass die Versorgung von jungen Menschen in einer Pflegefamilie auch über das 18. Lebensjahr hinaus geleistet werden kann.  

 

Weitere Leistungen zur Sozialen Teilhabe

Mit den Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kennnisse und Fähigkeiten (§ 81 SGB IX), den Leistungen zur Förderung der Verständigung (§ 82 SGB IX) und den Leistungen zur Mobilität (§ 83 SGB IX) sind weitere Einzelleistungen im Gesetz aufgenommen worden.
Mit § 84 SGB IX wird auch der Anspruch auf „Hilfsmittel“ gesetzlich normiert. Hierunter fallen Hilfsmittel, die in erster Linie der Sozialen Teilhabe dienen, also weder „Pflegehilfsmittel“ nach § 40 SGB XI noch Hilfsmittel nach § 33 SGB V sind. Beispielhaft aufgeführt ist der „barrierefreie Computer“, aber die Formulierung „insbesondere“ weist auch hier darauf hin, dass der Leistungskatalog offen ist
Im Einzelfall zu bestimmen, ob (bzw. inwieweit) ein Hilfsmittel nach dieser Vorschrift zu finanzieren ist oder ob ggf. ein anderer Rehabilitationsträger die Kosten (teilweise) tragen muss, wird künftig Gegenstand des Teilhabeplanverfahrens sein.
Als besondere Leistung der Eingliederungshilfe normiert § 115 SGB IX die Besuchsbeihilfen. Der Anspruch war bislang in § 54 Abs. 2 SGB XII geregelt und setzte die Betreuung in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe voraus. Mit dem 1. Januar 2020 sind Leistungen zur Teilhabe unabhängig von der Wohnform zu gewähren. Deshalb knüpft § 115 SGB IX nunmehr an ein „Leben außerhalb der Herkunftsfamilie“ an (BT-Ds.189522: S. 286).

 

Pauschale Geldleistung

Leistungen zur zur Assistenz zur Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung sowie Begleitung der Leistungsberechtigten, Leistungen zur Förderung der Verständigung und Leistungen zur Beförderung im Rahmen der Leistungen zur Mobilitätkönnen mit Zustimmung der Leistungsberechtigten auch in Form einer pauschalen Geldleistung erbracht werden. Die Träger der Eingliederungshilfe regeln dabei Höhe und Ausgestaltung der Pauschalen (§ 105 Abs. 3 SGB IX).


Entwicklung eines inklusiven Sozialraums

Schließlich werden die neuen Vorschriften in § 94 Abs. 3 SGB IX mit einem ausdrücklichen gesetzlichen Auftrag zur Entwicklung der Strukturen der Eingliederungshilfe und eines inklusiven Sozialraums verbunden. Diese Aufgabe haben die Sozialhilfeträger als Träger der Eingliederungshilfe bisher schon wahrgenommen. Die Verbindung zwischen der Weiterentwicklung der Leistungen der Eingliederungshilfe einerseits und dem gesetzlichen Auftrag an die Länder zur Entwicklung eines inklusiven Sozialraums soll gewährleisten, dass diese Leistungen künftig auch tatsächlich bedarfsdeckend angeboten werden können. 
Herausforderungen für die Träger der Eingliederungshilfe
Die zukünftigen Träger der Eingliederungshilfe müssen – wie andere Rehabilitationsträger auch –die Leistungen zur Sozialen Teilhabe und ihre Voraussetzungen genauer bestimmen, um sie künftig anbieten zu können. Zu ihren Aufgaben gehören u.a.: 

  • Feststellung der benötigten Leistungen und Leistungsstrukturen
  • Abgrenzung von Leistungen aus den Systemen anderer Rehabilitationsträger, der gesetzl. Pflegeversicherung und der Integrationsämter 
  • Ermittlung, wer die Leistungen erbringen darf und kann 
  • Regelung über Höhe und Ausgestaltung der pauschalen Geldleistung (§ 105 Abs. 4 SGB IX)
  • Beratung und Unterstützung zu Angeboten im Sozialraum


Quellen im Text:

 

Hintergrundmaterial:

Beteiligungsseite

Beiträge zur Fachdiskussion

Hier gelangen Sie zur Beteiligungsseite der Fachdiskussion "Soziale Teilhabe".
Im Reiter "Beiträge" finden Sie alle Fragen, die wir mit Zustimmung des Absenders veröffentlichen durften.

Experte

Portraitbild von Prof. Dr. Wolfgang Hinte

© Prof. Dr. Wolfgang Hinte

Prof. Dr. Wolfgang Hinte

Prof. Dr. Wolfgang Hinte ist emeritierter Leiter des Instituts für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB) der Universität Duisburg-Essen.

Expertin

Kerstin Blochberger

© Kerstin Blochberger

Kerstin Blochberger

Kerstin Blochberger ist Geschäftsführerin des Bundesverbands behinderter und chronisch kranker Eltern – bbe e.V. Sie besitzt einen Masterabschluss in Sozialer Arbeit und ist Peer-Counselorin. Ihre Schwerpunkte liegen u.a. in den Bereichen Elternassistenz, Persönliches Budget und Peer-Counseling.

Experte

Lars Wilhelms

© Lars Wilhelms

Lars Wilhelms

Lars Wilhelms ist Oberamtsrat im Referat V a 5 (Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Focal Point, Nationaler Aktionsplan) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Unsere Webseiten verwenden Cookies zur Verbesserung der Bedienung und des Angebots sowie zur Auswertung von Webseitenbesuchen. Einzelheiten über die von uns eingesetzten Cookies und die Möglichkeit diese abzulehnen, finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.