2024 – sieben Jahre nach der ersten Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Welche Erfolge wurden in der Umsetzung des BTHG bisher erzielt? Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit existieren? Was sind die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Realisierung des BTHG?
Diese drei Fragen beantworten hier monatlich wechselnde Vertreterinnen und Vertreter aus Bund, Ländern, Kommunen, Wohlfahrts- und Fachverbänden, Interessensvertretungen sowie der Politik. Durch ihre einzigartige Perspektive und wertvollen Erfahrungen aus der Praxis und Wissenschaft geben die Interviewten wertvolle Einblicke in die Umsetzung des BTHG.
Welche Erfolge konnten aus Ihrer Sicht in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes bisher erzielt werden? Von welchen Änderungen profitieren Menschen mit Behinderungen am meisten?
Wir nehmen die beabsichtigte Stärkung verschiedener Akteure wahr. So sind gleich mit der 1. Reformstufe die Rechte der Schwerbehindertenvertretungen gestärkt worden. Dort, wo Schwerbehindertenvertretungen aktiv sind, werden die Rechte behinderter Menschen in der Arbeitswelt besser durchgesetzt. Aber auch die aufgewertete Rolle der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation und die Verstetigung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) führt zu einer deutlich intensiveren Auseinandersetzung mit den Zielen des BTHG und den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.
Mit dem Bundesteilhabegesetz sollen Leistungen wie aus einer Hand ermöglicht werden. Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit sehen Sie? Welche Handlungsansätze könnten diese Hemmnisse überwinden?
Für die trägerübergreifende Zusammenarbeit braucht es Reformwillen und einen grundlegenden Bewusstseinswandel. Solange die Träger als oberste Maßgabe weiterhin an ihren jeweiligen Leistungsgesetzen festhalten, anstatt vom Dachgesetz des SGB IX her zu denken, und solange die dringend erforderlichen Fortbildungen nicht stattfinden, werden die Nachteile des gegliederten Sozialsystems nicht überwunden werden. Die Rehabilitationsträger müssten sich auf übereinstimmende Ausbildungsinhalte nach den Maßgaben des SGB IX und des bio-psycho-sozialen Wechsel-Modells der ICF verständigen.
Was sind darüber hinaus Ihrer Ansicht nach die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes? Welche Schritte wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Partizipation und Personzentrierung müssen bei der Bedarfsfeststellung und Leistungsgewährung gewährleistet werden. Die verantwortlichen Ministerien müssen dies gegenüber Rehabilitationsträgern und diese wiederum gegenüber Leistungserbringern durchsetzen. Für die besonderen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen, von Menschen mit kognitiven oder psychischen oder mehrfachen Beeinträchtigungen müssen spezifische Leistungen bereitgehalten werden (aufsuchende Reha, Coaching, Fallmanagement, lebenslange Unterstützung). Hochschulen müssen für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein.
Welche Erfolge konnten aus Ihrer Sicht in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes bisher erzielt werden? Von welchen Änderungen profitieren Menschen mit Behinderungen am meisten?
Der größte Erfolg ist, dass mit dem BTHG ein Leistungsrecht im SGB IX verankert wurde, das die Eingliederungshilfe behinderter Menschen neu und personenorientiert regelt. Mit dem Gesamt- und Teilhabeplanverfahren stehen Instrumente zur Verfügung, die eine individualisierte Unterstützung ermöglichen. Für viele Menschen mit Behinderung sind die neuen Einkommens- und Vermögensgrenzen eine deutliche Verbesserung, für Beschäftigte in der Werkstatt neben der Verdopplung des Arbeitsförderungsgeldes, die Einführung von Mitbestimmung und Frauenbeauftragten sowie eines bundesweiten Budgets für Arbeit.
Mit dem Bundesteilhabegesetz sollen Leistungen wie aus einer Hand ermöglicht werden. Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit sehen Sie? Welche Handlungsansätze könnten diese Hemmnisse überwinden?
Zwar stärkt der erste Teil des SGB IX die Verpflichtung zur Zusammenarbeit, allerdings treffen nach wie vor unterschiedliche Logiken bei Antragstellung und Bewilligung von Leistungen aufeinander. Eine verpflichtende Zusammenarbeit mit Angleichung der Antragsverfahren, wie aktuell bei der BAR in Erarbeitung, könnte bei einer Selbstverpflichtung der Träger, dies umzusetzen, zur Verbesserung führen.
Was sind darüber hinaus Ihrer Ansicht nach die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes? Welche Schritte wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Die Ausnahmesituation der letzten Jahre und die daraufhin vereinbarten Übergangsfristen haben die Durchführung der Bedarfsermittlung als Herzstück der personenorientierten Leistungsgewährung vielerorts behindert, sodass sie nicht flächendeckend umgesetzt wird. Ohne eine umfassende Bedarfsermittlung im Einzelfall laufen jedoch viele Impulse des BTHG ins Leere.
Welche Erfolge konnten aus Ihrer Sicht in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes bisher erzielt werden? Von welchen Änderungen profitieren Menschen mit Behinderungen am meisten?
Der Erfolg eines Gesetzes misst sich daran, welche Erwartungen mit der Umsetzung verknüpft waren. Nach meiner Auffassung ist es gelungen, die Eingliederungshilfe durch die Überführung aus der Sozialhilfe in ein eigenständiges Leistungsrecht im SGB IX aus dem Fürsorgesystem herauszulösen und die Mitsprache- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Menschen mit Behinderungen zu stärken. Die verbindliche Vorgabe eines Gesamtplanverfahrens ist ein wichtiger Baustein dieser Veränderung. Auch die weitgehende Freistellung vom Einsatz von Einkommen und Vermögen macht den Wandel der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht deutlich.
Mit dem Bundesteilhabegesetz sollen Leistungen wie aus einer Hand ermöglicht werden. Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit sehen Sie? Welche Handlungsansätze könnten diese Hemmnisse überwinden?
Die Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit kommt ebenfalls in den gesetzlichen Regelungen zur Gesamt- und Teilhabeplanung zum Ausdruck. Das Verfahren zur Beteiligung aller betroffenen Rehabilitationsträger ist sowohl organisatorisch als auch personell sehr aufwendig. Eine rechtlich abgesicherte Vorleistungsmöglichkeit des Trägers der Eingliederungshilfe mit nachträglicher Ausgleichsverpflichtung anderer Rehabilitationsträger könnte Abhilfe leisten.
Was sind darüber hinaus Ihrer Ansicht nach die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes? Welche Schritte wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Die größte Herausforderung bei der Umsetzung des BTHG besteht derzeit zweifelsfrei in der Anpassung und Umsetzung der Landesrahmenverträge und der entsprechenden Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen. Denn erst nach deren vollständiger Anpassung wird sich abschließend bewerten lassen, ob das Ziel des Gesetzes, nämlich verbesserte Teilhabe bei gleichzeitiger Dämpfung des Kostenanstiegs, erreicht wird. Auch die gesetzlich verbesserten Prüf- und Steuerungsmöglichkeiten der Träger der Eingliederungshilfe werden ihre volle Wirkung erst entfalten können, wenn die Vereinbarungen angepasst sind. Das Verhandlungsgeschäft zur Anpassung der vertraglichen Grundlagen erweist sich als äußerst zeitintensiv und zäh. Eine weitere Herausforderung sehe ich darin, ein gemeinsames Verständnis zur Beurteilung der Wirksamkeit von Leistungen zu finden.