FD Leistungsberechtigter Personenkreis

10. September bis 19. Oktober 2018

Leistungsberechtigter Personenkreis in der Eingliederungshilfe

Die Neuregelung des Zugangs zum leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe wurde im BTHG offengelassen und im Rahmen eines Forschungsvorhabens in den Jahren 2017 und 2018 wissenschaftlich untersucht. Der Abschlussbericht wurde im September 2018 als Bundestagsdrucksache 19/4500 veröffentlicht.

Hintergrund des Forschungsvorhabens zum leistungsberechtigten Personenkreis

Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) wurde zum 1. Januar 2018 ein neuer Behinderungsbegriff eingeführt. Dieser definiert Behinderung als Wechselwirkung zwischen der Teilhabeeinschränkung einer Person und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Durch die Einbeziehung dieser Wechselwirkung wird der Verweis auf das Behinderungsverständnis der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) deutlich (Präambel und Art. 1 UN-BRK). Die UN-BRK wiederum gründet in ihrem Verständnis von Behinderung insbesondere auf der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (BT-Drs. 18/9522: 227).

Im Gesetzgebungsprozess zielte das BTHG zudem darauf ab, das neue Behinderungsverständnis in die Regelung des leistungsberechtigten Personenkreises der Eingliederungshilfe einfließen zu lassen und zugleich das Zugangsmerkmal der „Wesentlichkeit“ durch das Kriterium „in erheblichem Maße“ weiterzuentwickeln (ebd.: 276). In der Begründung des Gesetzentwurfs wurde hierzu erläutert:
„Das leistungsauslösende Moment wird nun nicht mehr an der Person selbst bzw. an Persönlichkeitsmerkmalen festgemacht (‚er/sie ist wesentlich behindert‘), sondern an der Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt, d. h. wenn die Fähigkeit zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft in erheblichem Maße eingeschränkt ist und deshalb personelle oder technische Unterstützung in an der ICF-orientierten Lebensbereichen notwendig ist“ (ebd.: 198f.).

Dabei sah der Gesetzentwurf des BTHG als Grundlage für die Zugehörigkeit zum leistungsberechtigten Personenkreis noch vor, dass die Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft in erheblichem Maße vorliegt, wenn „die Ausführung von Aktivitäten in mindestens fünf Lebensbereichen nach Absatz 2 [Lebensbereiche der ICF-Komponenten Aktivitäten und Teilhabe, Anm. d. Red.] nicht ohne personelle oder technische Unterstützung möglich oder in mindestens drei Lebensbereichen auch mit personeller oder technischer Unterstützung nicht möglich ist“ (ebd.: 71).

Im Rahmen der im Gesetzgebungsprozess geäußerten Kritik – sowohl von Seiten der Verbände von und für Menschen mit Behinderungen als auch der Leistungsträger (BT-Drs. 18/10523: 44ff.) – wurde die Neuregelung des Zugangs zum leistungsberechtigten Personenkreis im BTHG durch die unbestimmten Rechtsbegriffe „in einer größeren Anzahl der Lebensbereiche“ und „in einer geringeren Anzahl der Lebensbereiche“ offengelassen. So liegt gemäß BTHG eine Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft in erheblichem Maße vor, „wenn die Ausführung von Aktivitäten in einer größeren Anzahl der Lebensbereiche nach Absatz 4 [Lebensbereiche der ICF-Komponenten Aktivitäten und Teilhabe, Anm. d. Red.] nicht ohne personelle oder technische Unterstützung möglich oder in einer geringeren Anzahl der Lebensbereiche auch mit personeller oder technischer Unterstützung nicht möglich ist“ (Art. 25a § 99 Abs. 1 BTHG). Das Nähere soll durch ein Bundesgesetz bestimmt werden (Art. 25a § 99 Abs. 7 BTHG).

Als Grundlage für dieses Bundesgesetz wurde im Rahmen der Umsetzungsunterstützung des BTHG festgelegt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in den Jahren 2017 und 2018 die rechtlichen Wirkungen von Art. 25a § 99 auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe untersucht und mit dem Ziel konkretisiert, den leistungsberechtigten Personenkreis beizubehalten (Art. 25 Abs. 5 BTHG).

Fragestellungen und Vorgehen des Forschungsvorhabens

Mit dieser Untersuchung hat das BMAS die Arbeitsgemeinschaft ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH, transfer – Unternehmen für soziale Innovation, Universität Kassel (Prof. Dr. Felix Welti) und Dr. med. Matthias Schmidt-Ohlemann als Forschungsvorhaben „Rechtliche Wirkungen von Artikel 25a § 99 BTHG auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe“ beauftragt.

Ziel des Forschungsvorhabens war es, die im BTHG bewusst offengehaltenen Kriterien zur Definition des leistungsberechtigten Personenkreises zu überprüfen, zu konkretisieren und in einer anwendungsfreundlichen Form zu operationalisieren. Die übergreifende Forschungsfrage lautete, wie die Definition des leistungsberechtigten Personenkreises in Orientierung an der ICF so operationalisiert werden kann, dass dieser Personenkreis weder ausgeweitet noch eingeschränkt wird (BT-Drs. 19/4500: 77). Es sollte also geprüft werden, ob und bei welcher Anzahl der Lebensbereiche sich keine Veränderungen beim Personenkreis gegenüber der derzeit geltenden Rechtslage ergeben.

Zur Beantwortung dieser Fragestellungen wurden verschiedene empirische Erhebungen durchgeführt, darunter die Analyse und Auswertung von 1.796 Akten von Leistungsbeziehern der Eingliederungshilfe (u. a. Hilfepläne, Förderpläne, Entwicklungsberichte, ärztliche Stellungnahmen) und die Durchführung vertiefender Interviews mit Leistungsbeziehern und mit potenziell leistungsberechtigten Personen, die aktuell jedoch keine Leistungen der Eingliederungshilfe beziehen. Darüber hinaus fanden zwei Workshops zur Rechtsauslegung und -anwendung statt (ebd.: 8ff.).

Anfang Juli 2018 wurde der Zwischenbericht des Forschungsvorhabens als Bundestagsdrucksache 19/3242 veröffentlicht. Im September 2018 folgte die Veröffentlichung des Abschlussberichts als Bundestagsdrucksache 19/4500.

Ergebnisse des Forschungsvorhabens

Ein Ergebnis des nun vorgelegten Abschlussberichts ist, dass auch bei Anwendung verschiedener Berechnungsvarianten anhand der ICF eine Restgruppe bleibt, die unterschiedlich groß ausfällt, aber nicht gänzlich aufgelöst werden kann und wahrscheinlich aus dem leistungsberechtigten Personenkreis herausfallen würde (ebd.: 89). So hat die Aktenanalyse ergeben, dass bei Anwendung des Kriteriums, dass die Ausführung von Aktivitäten in mindestens fünf Lebensbereiche ohne personelle oder technische Unterstützung oder in mindestens drei Lebensbereiche auch mit personeller oder technischer Unterstützung nicht möglich ist, 9,1 Prozent der derzeitigen Leistungsbezieher aus der Leistungsberechtigung herausfallen würden (ebd.: 38). Überdurchschnittlich hoch wäre dieser Anteil bei Personen mit Sehbehinderung (10,7 Prozent), mit Suchterkrankung (16,1 Prozent) und ohne genaue Angabe der Behinderungsart (12,7 Prozent) sowie bei Personen mit einem niedrigen Grad der Behinderung (21,6 Prozent) (ebd.: 38).

Da jedoch aufgrund fehlender Angaben in den Akten in durchschnittlich etwa 25 Prozent der Fälle eine Gesamteinschätzung der Beeinträchtigung in einem Lebensbereich nicht möglich war (ebd.: 25f.), wurde eine weitere Berechnung für diejenige Teilgruppe vorgenommen, bei der in maximal drei Lebensbereichen eine Einschätzung nicht möglich war (entspricht rund 71 Prozent aller Akten). Anhand dieser Berechnung würden noch 2,4 Prozent der derzeitigen Leistungsbezieher aus der Leistungsberechtigung herausfallen (ebd.: 38). Ersetzt man die Vorgabe fünf bzw. drei aus neun durch vier bzw. zwei aus neun, würden bei Betrachtung der Teilgruppe mit maximal drei fehlenden Einschätzungen der Beeinträchtigung eines Lebensbereichs 0,9 Prozent der Leistungsbezieher herausfallen (ebd.: 39).

Die Auswertung der ergänzenden Interviews hat ergeben, dass bei derzeitigen Leistungsbeziehern nach dem Kriterium „5 oder 3 aus 9“ eine Restgröße von 31,7 Prozent und nach dem Kriterium „4 oder 2 aus 9“ von 17,9 Prozent der interviewten Personen nicht mehr zum leistungsberechtigten Personenkreis gehören würde. Dies würde u. a. Personen mit seelischer Behinderung und Menschen mit Suchterkrankung in überdurchschnittlichem Maße betreffen (ebd.: 62ff.).

Zugleich hat die Auswertung der ergänzenden Interviews aber auch zu der wesentlichen Erkenntnis geführt, dass ein erheblicher Teil von Personen, der heute keine Leistungen der Eingliederungshilfe bezieht, zum leistungsberechtigten Personenkreis neu hinzukommen würde (ebd.: 90). So würden 63 Prozent der interviewten Personen, die keine Eingliederungshilfeleistungen beziehen, nach dem Kriterium „5 oder 3 aus 9“ zum leistungsberechtigten Personenkreis neu hinzukommen (79,3 Prozent nach dem Kriterium „4 oder 2 aus 9“). Hiervon wären in überdurchschnittlichem Maße u. a. Menschen mit geistiger Behinderung und Suchtkranke betroffen (ebd.: 62ff.). Insofern wäre gemäß den Ergebnissen der Interviews die Personengruppe, die zum leistungsberechtigten Personenkreis neu hinzukommen würde, deutlich größer als die Personengruppe, die aus dem leistungsberechtigten Personenkreis herausfallen würde.

Das Kriterium, dass der leistungsberechtigte Personenkreis durch das neue Verfahren unverändert bleiben soll, wird mit einer quantifizierenden Neudefinition somit nicht erfüllt (ebd.: 90).

Zur weiteren Diskussion schließt der Abschlussbericht mit der Benennung möglicher Kriterien eines an der ICF orientierten Leistungszugangs (ebd.: 90ff.) sowie mit einem vorläufigen eigenen Definitionsvorschlag mit Blick auf Art. 25a BTHG:

„In § 99 Abs. 1 SGB IX sind Satz 2 und 3 zu ersetzen durch die Formulierung:

‚Eine erhebliche Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe besteht, wenn die beeinträchtigte Person relevante praktische Lebensvollzüge in mindestens einem Lebensbereich nach Absatz 4 nicht ohne personelle oder technische Hilfe ausführen kann und nur durch personelle oder technische Unterstützung die Ausführung dieser Lebensvollzüge ermöglicht oder verbessert werden kann oder einer Verschlechterung vorgebeugt werden kann.‘

In § 99 Abs. 2 SGB IX ist Satz 2 zu streichen.

[…]

Die gesonderte Regelung des Leistungszugangs für die Teilhabe am Arbeitsleben in § 99 Abs. 6 SGB IX sollte beibehalten werden. Sie sollte um eine gesonderte Regelung des Leistungszugangs für die Teilhabe an Bildung ergänzt werden, die sich daran orientiert, ob behinderungsbedingt eine erhebliche Beeinträchtigung der Teilhabe an Bildung im allgemeinen Bildungswesen eingetreten ist oder einzutreten droht“ (ebd.: 92).

Wie geht es weiter?

Nachdem im Rahmen des Forschungsvorhabens eine quantifizierende Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe ausgeschlossen wurde, stellt sich nun die Frage, ob eine qualitative Ausgestaltung anhand der ICF möglich ist. Das BMAS plant, im Rahmen eines partizipativen Beteiligungsprozesses Kriterien zur Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises zu erarbeiten (BT-Drs. 19/3592: 48; Rombach 2018: 12). Bis zur Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe durch ein Bundesgesetz bleibt die bisherige Definition bestehen.

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Dr. Dietrich Engels ist Geschäftsführer von ISG - Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH.

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Thomas Schmitt-Schäfer ist Geschäftsführer von transfer – Unternehmen für soziale Innovation.

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Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann

Dr. med. Matthias Schmidt-Ohlemann ist leitender Arzt Rehabilitationsfachdienste der Stiftung Kreuznacher Diakonie i.R. und Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR). Ferner ist er Facharzt für Orthopädie, Rheumatologie sowie Facharzt für physikalische und rehabilitative Medizin.

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