Ein Klient, 20 J. beantragt über Sozialpsychiatrischen Dienst Hilfe zur Teilhabe in Form von ambulant betreuten Wohnen (jetzt weitere besondere Wohnform) beim Kommunalen Sozialverband Sachsen. Dieser reicht den Antrag an das örtliche Jugendamt weiter. Zur Abklärung, ob § 35a SGB VIII vorliegt, möchte das Jugendamt ein Statement des behandelnden Facharztes. Der Klient besucht z.Z. keinen Facharzt, legt aber einen ausführlichen Klinikbericht seines Aufenthaltes vor 1,5 Jahren vor. Das Jugendamt lehnt den Hilfeantrag mit Verweis auf den fehlenden Facharzt ab. Setzt der Hilfeantrag einen regelmäßigen Facharztbesuch voraus, oder ist das Jugendamt verpflichtet ein Gutachten erstellen zu lassen. Inwieweit sind die Anfoderungen zur Hilfebedarfsermittlung des BTHG (ICF Orientierung) für das Jugendamt verpflichtend.
Antwort:Für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe als Reha-Träger sind die Vorgaben des § 13 SGB IX verpflichtend
Dem Antragsteller obliegt es die den Leistungsanspruch begründenden Tatsachen vorzutragen und zu belegen. Diese Mitwirkungspflichten sind in den §§ 60 ff. SGB I konkretisiert. Dazu gehört auch die Vorlage ärztlicher Unterlagen, wenn diese für den Leistungsanspruch relevant sind. Daneben existiert der mit den Mitwirkungspflichten korrespondierende Untersuchungsgrundsatz des Kostenträgers nach § 20 SGB X. Danach hat die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln.
Voraussetzung für den Anspruch auf Eingliederungshilfe von Kindern und Jugendlichen ist nach § 35 a Absatz 1 Ziffer 1. und 2. SGB VIII, dass die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Ob die seelische Gesundheit abweicht, muss der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 35 a Absatz 1 a SGB VIII durch eine Stellungnahme eines Arztes oder Psychologen mit einschlägiger Ausbildung begutachten lassen. Der Auftrag zur Begutachtung kann vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe selbst oder in Absprache mit dem Kind bzw. der / dem Jugendlichen oder den Eltern erteilt werden. (vgl. BeckOK SozR/Winkler, 56. Ed. 1.3.2020, SGB VIII § 35a Rn. 3)
Ob eine Beeinträchtigung der Teilhabefähigkeit vorliegt, haben dann die Fachkräfte des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe festzustellen (vgl. Rn. 7-9 aaO). Für die Feststellung dieser Tatbestandsvoraussetzung gilt der Untersuchungsgrundsatz des § 20 SGB X. Innerhalb der grundsätzlichen Zuständigkeit des Jugendamtes haben ärztliche, aber vor allem sozialpädagogisch geschulte Fachkräfte nachvollziehbare und gerichtlich überprüfbare Aussagen zu den von der Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereichen sowie dem sozialen Umfeld zu treffen. Bei dem Begriff der Teilhabebeeinträchtigung handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe von den Verwaltungsgerichten voll überprüfbar ist. (vgl. von Koppenfels-Spies in, Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 35a SGB VIII, Stand: 31.03.2020, Rn. 41).
Die Vorlage eines fachärztlichen Attestes durch den Antragsteller, insbesondere wenn der Antragsteller sich nicht in fachärztlicher Behandlung befindet, ist keine Voraussetzung für den Leistungsanspruch aus § 35 a SGB VIII. Der Auftrag zur Begutachtung ist vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu erteilen.
Für die Träger der öffentlichen Jugendhilfe als Rehabilitationsträger sind die Vorgaben des § 13 SGB IX zu Instrumenten der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs verpflichtend. Diese Regelungen gehen auch dem Leistungsgesetz der Jugendhilfe, also dem SGB VIII, vor (§ 7 Abs. 2 SGB IX). Die Vorgaben aus § 118 Abs. 1 SGB IX zur Orientierung an der ICF gelten zudem ergänzend für die Träger der Eingliederungshilfe, weil sich § 39 Abs. 1 SGB IX nur auf die in § 6 Abs. 1 Ziffer 1-5 SGB IX genannten Reha-Träger bezieht, die Gemeinsame Empfehlung der BAR also für die Eingliederungshilfeträger nicht bindend ist (NPGWJ/Jabben, 14. Aufl. 2020, SGB IX § 13 Rn. 4).
§ 13 Abs. 2 SGB IX verpflichtet die Träger der öffentlichen Jugendhilfe jedoch zu einer individuellen und funktionsbezogenen Bedarfsermittlung. Auch wenn der Begriff “funktionsbezogen” im BTHG nicht näher erläutert wird, verweist die Literatur diesbezüglich auf die ICF und auf das bio-psycho-soziale Modell. Gemäß der Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess der BAR ist die Bedarfsermittlung dann funktionsbezogen, “wenn sie unter Nutzung des bio-psychosozialen Modells der WHO erfolgt und sich dabei an der ICF orientiert” (BAR 2019: 43). Zudem hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter im Juni 2019 in ihrer Handlungsempfehlung „Anforderungen an die Jugendämter durch das Bundesteilhabegesetz" empfohlen, dass die Bedarfsermittlungsinstrumente der Jugendhilfe zur Erfüllung der Anforderungen des § 13 SGB IX “in den unterschiedlichen Lebensbereichen die einstellungs- und umweltbedingten Kontextfaktoren der ICF und ihre Wechselwirkungen“ (Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter 2019: 14) einbeziehen. Darüber hinaus geht auch die vom BMAS beauftragte Studie zur Implementierung von Instrumenten der Bedarfsermittlung davon aus, dass funktionsbezogen „einen deutlichen Bezug zum bio-psycho-sozialen Modell, welches das Vorliegen einer Behinderung über die Schädigung der Körper- und Sinnesfunktionen definiert und die darauf fußende Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)“ (BMAS 2019: 15) impliziert.
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