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BTHG-Kompass 1.6

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Inhaltsverzeichnis

BTHG-Kompass 1.6

Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe bei Säuglingen, Klein- und Kindergartenkindern

Der folgende Diskussionsbeitrag bezieht sich auf die Leistungsberechtigung von Säuglingen, Klein- und Kindergartenkindern. Er nimmt engen Bezug zur BT-Drucksache 18/9954 (Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, Drucksache 18/9522).

Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum BTHG-Entwurf darauf hingewiesen, dass es weder möglich noch sinnvoll sei, wesentliche Teilhabebeschränkungen von Kindern im Vorschulalter nach Anzahl und Schweregrad derjenigen Teilhabekriterien vorzunehmen, die für Schulkinder oder Erwachsene bedeutsam sind. Dies würde zu einer Verschärfung der Zugangsvoraussetzungen sowie zu einem Rückgang von Einzel- und Komplexleistungen im Rahmen der Früherkennung und Frühförderung führen. In der Folge wäre auch der präventive Ansatz der interdisziplinären Frühförderung gefährdet. Für die Bewilligung von Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung, so die Empfehlung des Bundesrats, müsse es bereits ausreichend sein, wenn die Folgen einer (drohenden) Behinderung gemildert würden. „Es muss daher klargestellt werden, dass § 79 SGB IX-E lex specialis zu § 99 SGB IX-E ist und bei den Heilpädagogischen Leistungen für Frühförderkinder nach wie vor keine hohe Wahrscheinlichkeit einer erheblichen, drohenden Teilhabebeschränkung erforderlich ist, um den Leistungstatbestand auszulösen“ (vgl. Drucksache 18/9954, S. 14-15). Die Bundesregierung ist dieser Einschätzung gefolgt (s. Drucksache 18/9954, S. 65).



Antwort:

Wir beantworten die Frage aus rechtlicher und aus sozialmedizinischer Sicht.

Aus rechtlicher Sicht ist sehr fraglich, ob der Bundesregierung und dem Gesetzgeber die nach BT-Drucks. 18/9954, 65 gewünschte Änderung im Sinne des Bundesrats gelungen ist. Das Wort „Leistungsberechtigte“ wurde im Vergleich zur Entwurfsfassung gestrichen. Der Ausschussbericht gibt jedoch keine klare Aussage zum Sinn dieser Änderung (BT-Drucks. 18/10523, 56). Zudem kann kaum gemeint sein, dass Leistungen an nicht leistungsberechtigte Personen erbracht werden. Über die Anspruchsberechtigung wird jedoch nach § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB IX nicht in Teil 1 SGB IX, sondern in Teil 2 entschieden. § 79 SGB IX kann insoweit nicht lex specialis zu § 99 SGB IX sein. Das Problem wäre erst gelöst, wenn es zu einer Änderung von § 99 SGB IX kommt.

Aus sozialmedizinischer Sicht ist zunächst darauf hinzuweisen, dass in vielen Fällen einer heilpädagogischen Leistung eine medizinische Leistung zur Früherkennung und Frühförderung vorausgeht, die neben den medizinischen Leistungen nach § 46 Abs. 1 Nr.1 SGB IX auch nichtärztliche Leistungen umfasst, die nach § 43 a Abs. 1 SGB IX als sozialpädiatrische Leistungen erbracht werden. Ergebnis ist ein Behandlungsplan, der die Leistungsgrundlage für Leistungen sowohl nach § 46 SGB IX sein kann als auch für Leistungen nach § 79 SGB IX. Ein Behandlungsplan umfasst dann die Leistungen, die erforderlich sind, um die Ziele auch nach § 79 SGB IX zu erreichen.

Zur Erstellung des Behandlungsplanes, die übrigens auch von Kinderärzten, Gesundheitsämtern u.a. Stellen erfolgen kann, werden Feststellungen zur Behinderung oder drohenden Behinderung getroffen, die in der Regel den Kriterien des § 13 SGB IX entsprechen. Sie liefern also die Grundlagen für eine Leistungsentscheidung im Hinblick auf die Leistungen der Frühförderung. Zudem ermitteln die Frühförderstellen ebenfalls den Bedarf umfassend, bevor sie tätig werden.

Bei diesem Vorgehen handelt es sich um einen in der Regel niedrigschwelligen Zugang, der unbedingt beibehalten werden sollte. Dabei wird regelhaft von der gesetzlichen Option Gebrauch gemacht, Leistungen auch bei drohender Behinderung erbringen zu können. Eine besondere Prüfung der Wesentlichkeit erfolgt hier nicht.

Es erscheint nicht sinnvoll, und ist auch gesetzlich nicht zwingend erforderlich, dieses bewährte Verfahren durch ein standardisiertes, an anderen Problemlagen orientiertes allgemeines Teilhabe- oder Gesamtplanverfahren zu ersetzen. Das bisherige, in den einzelnen Bundesländern jeweils unterschiedlich geregelte Verfahren ist mit dem BTHG vereinbar. 

Antwort aus rechtlicher und sozialmedizinischer Sicht

Leistungsberechtigung bei Menschen mit einem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS)

Mit der Anlehnung an die ICF wird m.M. nach ein wesentlicher hilfebedürftiger Personenkreis ausgeschlossen. Menschen mit einem Fetalen Alkoholsyndrom, FAS/ FASD. Hier reden wir von zur Zeit ungefähr 10 000 Geburten per Anno mit anerkanntem FASD, davon ca. 4000 Menschen mit einem Vollbild. Die Schätzung der Dunkelziffer beträgt konservativ noch einmal ca. 10/15 tsd Geburten in D pro Jahr. Hier einmal eine Listung der neurologischen, mentalen und psychopathogenen Störungen und ihrer Gewichtung bei Menschen mit einem FASD Syndrom.

Geistige Entwicklungsverzögerung

89% (Lö), 83% (Maj), 93% (Sp)

Sprachstörungen

80% (Shaywitz et al. 1984)

Hörstörungen

ca.20% (Lö)

Eß- und Schluckstörungen

ca.30% (Lö)

Schlafstörungen, Pavor nocturnus

ca.40% (Lö)

Muskul. Hypotonie, Muskeldysplasie

57% (Maj), 65% (Sp)

Verminderte Schmerzempfindlichkeit

ca.20% (Lö)

Feinmotorische Dysfunktion

ca.80% (Lö)

Krampfanfälle

6% (Lö)

Verhaltensstörungen

Hyperaktivität, Hyperexzitabilität

72% (Lö), 72% (Sp), 74% (Maj)

Distanzlosigkeit, Vertrauensseligkeit

ca.50% (Lö)

Erhöhte Risikobereitschaft, Waghalsigkeit

ca. 40%

Autismus

3% (Lö)

Aggressivität, dissoziales Verhalten

ca.3% (Lö)

Emotionale Instabilität

ca. 30%

Quelle: Uni due.2001

Dazu kommen noch teilweise organische Fehlbildungen/Probleme wie z.B. Enuresis, Enkopresis, Missbildungen an inneren Organen etc.

Das Problem für die Anerkennung als Behinderung sind zum einen die individuell unterschiedlich ausgeprägten Einschränkungen im Individuum, andererseits dass betroffene Menschen sehr wohl über einen normalen IQ verfügen, auch sonst über keine definierten Behinderungsmerkmale verfügen, aber aufgrund ihrer mentalen Schädigung nicht alleine am Leben teilhaben können. Hierzu verweise ich auf die aktuellen Unfall- bzw. Delinquent- Untersuchungen. Eine weitere (Kurz)-Informationsquelle wäre:

Fasq.eu

sowie u.a. die Veröffentlichung von : Dr Feldmann , Fetales Alkoholsyndrom, Berlin 2012.

Nach derzeitiger Definition von ICF würde damit eine der zahlenmäßig größten Gruppen von Menschen mit Behinderungen aus der Definition – und den damit verbundenen notwendigen Hilfestellungen ausgeschlossen.

Selbst wenn dies z.B. aus finanziellen Gründen gewünscht ist, wäre das m.M. nach eine recht kurzfristige Sichtweise. Ich behaupte mal kühn, dass die Folgekosten in Justiz, Krankenkassen und für komorbide Störungen volkswirtschaftlich deutlich höher liegen als bei einer direkten Hilfestellung für die Menschen mit FAS.

Ein weiteres Faktum bei Kindern/Jugendlichen mit FASD ist, dass über 80% der Betroffenen (ohne Dunkelziffer) nicht bei den leiblichen Eltern leben, sondern in Pflege, Adoptivfamilien sowie Einrichtungen der Jugendhilfe leben. Diesem Umstand müsste hier auch dringend Rechnung getragen werden, da diese Familien einen erheblichen Anteil z.Z. weitestgehend unhonoriert, an gesamtgesellschaftlichen Aufgaben „übernommen“ haben.



Antwort:

FAS im Rahmen der ICF und des Abschlussberichts

Mit Hilfe des bio-psycho-sozialen Modells der ICF können die Wechselwirkungen unterschiedlicher Komponenten bei einer diagnostizierten Gesundheitsstörung beschrieben werden. Komponenten sind die Körperfunktionen und -strukturen, die Aktivitäten und Teilhabe sowie die Kontextfaktoren. Die von ihnen im Zusammenhang mit einem fetalen Alkoholsyndrom im Zusammenhang stehenden Schädigungen der körperlichen Funktionen und Beeinträchtigungen der Aktivitäten können unseres Erachtens voll umfänglich mit Hilfe der ICF beschrieben werden. Hinzu kommen noch die Folgen der Wechselwirkungen der Umweltfaktoren sowie personbezogener Faktoren mit den beschriebenen Schädigungen bzw. Beeinträchtigungen, die in der Gesamtbetrachtung ein realistisches Bild einer im individuellen Fall bestehenden Teilhabebeeinträchtigung geben. Aus sozialmedizinischer Sicht ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass sich die funktionellen Beeinträchtigungen beim FAS nicht immer leicht erkennen und zuordnen lassen. Nicht selten wird von den Betroffenen auch die Diagnose FAS ungern angegeben. Es kommt deshalb darauf an, die Beeinträchtigungen möglichst genau zu beschreiben und der zugrundeliegenden Gesundheitsstörung zuzuordnen. Dann kann man die Auswirkungen auf die Teilhabe im Zusammenwirken mit den Kontextfaktoren gut erfassen und in der ICF vollständig abbilden.

Dies hat sich auch in der Untersuchung zum Personenkreis nach Art 25a BTHG  (BT-Drucksache 19/4500) gezeigt, wo sich bei der Aktenanalyse eine ganze Reihe von Menschen mit FAS fanden, bei denen die Teilhabebeeinträchtigungen ausreichend gut erfasst wurden.

Vorschlag des Abschlussberichts zum weiteren Aushandlungsprozess

Der Abschlussbericht zu den rechtlichen Auswirkungen des §99 stellt die Grenzen der ICF im Allgemeinen, ihre ethischen Grundsätze und die damit einhergehende mangelnde Eignung der ICF zur technokratischen Feststellung der Leistungsberechtigung hinreichend dar.

Der Bericht diskutiert zudem alternative Kriterien. Die Wiederaufnahme der alten Definition des Personenkreises, verändert um die Formulierung "erheblich" statt "wesentlich" scheint realistisch. Bisher waren die Fachstellen in Zusammenarbeit mit den Betroffenen und Ihren Unterstützungspersonen bereits in der Lage, zu qualitativen und auf der Basis der Diagnostik aller beteiligten Professionen (Medizin, Psychologie, Soziale Arbeit, Ergotherapie,...) zu einer Beurteilung bzgl. Leistungsberechtigung - in meinem Arbeitsfeld der Suchtkranken -  zu kommen. Dabei wurden nicht nur med. Diagnosen berücksichtigt, sondern die Lebenssituation, bisherige Maßnahmen, aktuelles Leistungsvermögen, Barrieren und Ressourcen der Person sowie der Umwelt. Die individuellen Bedarfe sind auch bislang dargestellt worden und haben meistens zu passenden Maßnahmen und guten Wirkungserfolgen für die Leistungsnutzer geführt. Leider ist das bislang zu wenig quantifiziert dargestellt worden, hierfür tragen Leistungsträger und -erbringer in gleicher Weise Verantwortung. Ich bin zuversichtlich, dass dies in Zukunft genauso gut und noch besser gelingen wird. Das icf-basierte Coreset Sucht MCSS kann uns dabei helfen, ebenso ICF-basierte Bedarfsermittlungsinstrumente, das Gesamtplanverfahren an sich, Ziel- bzw. Hilfeplanungen und deren Überprüfung und Bewertung gemeinsam mit dem Leistungsnehmer. Aber alles bitte mit so wenig Bürokratie und Technokratie wie möglich. Es soll qualitative Leistung beim Menschen mit Behinderung ankommen, nicht noch mehr Bürokratie - das wäre gelebte "Kundenorientierung" im Sinne von Personenzentrierung und verschafft Wirkung und Teilhabe!

In diesem Sinne unterstütze ich den Vorschlag des Abschlussberichtes, die Formulierung und Ausgestaltung von Handlungsempfehlungen in einem weiteren Aushandlungsprozess unter Beteiligung aller Akteure auf Seiten Menschen mit Behinderung (hier insbesondere unter Beteiligung der Menschen mit seelischer Behinderung und Suchterkrankung), der Eingliederungshilfeträger und der Leistungsanbieter bzw. deren (Fach-)Verbände auf den Weg zu bringen.



Antwort:

Antwort

Wir danken für dieses Statement, dem wir nichts hinzufügen können.

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