Welche Menschen mit Behinderungen erhalten Eingliederungshilfe? Ist es richtig, dass nicht jeder Mensch mit Behinderungen Eingliederungshilfe bezieht?
Antwort:Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten nach derzeitiger Rechtslage Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind (§ 53 Abs. 1 SGB XII). Davon zu unterscheiden ist die Schwerbehinderung. Für schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 SGB IX) gelten die Regelungen des Teils 3 SGB IX (Schwerbehindertenrecht). Die Personenkreise sind nicht deckungsgleich: Nicht alle Menschen mit wesentlicher Behinderung sind schwerbehindert und nicht alle Menschen mit Schwerbehinderung sind wesentlich behindert. Insofern beziehen auch nicht alle Menschen mit Behinderungen Eingliederungshilfe.
Im Gesetzgebungsprozess zielte das BTHG darauf ab, das neue Behinderungsverständnis in die Regelung des leistungsberechtigten Personenkreises der Eingliederungshilfe einfließen zu lassen und zugleich das Zugangsmerkmal der „Wesentlichkeit“ durch das Kriterium „in erheblichem Maße“ weiterzuentwickeln (BT-Drs. 18/9522: 276). In der Begründung des Gesetzentwurfs wurde hierzu erläutert:
„Das leistungsauslösende Moment wird nun nicht mehr an der Person selbst bzw. an Persönlichkeitsmerkmalen festgemacht (‚er/sie ist wesentlich behindert‘), sondern an der Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt, d. h. wenn die Fähigkeit zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft in erheblichem Maße eingeschränkt ist und deshalb personelle oder technische Unterstützung in an der ICF-orientierten Lebensbereichen notwendig ist“ (ebd.: 198f.).
Die Neuregelung des Zugangs zum leistungsberechtigten Personenkreis wurde im BTHG durch die unbestimmten Rechtsbegriffe „in einer größeren Anzahl der Lebensbereiche“ und „in einer geringeren Anzahl der Lebensbereiche“ offengelassen. So liegt gemäß BTHG eine Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft in erheblichem Maße vor, „wenn die Ausführung von Aktivitäten in einer größeren Anzahl der Lebensbereiche nach Absatz 4 [Lebensbereiche der ICF-Komponenten Aktivitäten und Teilhabe, Anm. d. Red.] nicht ohne personelle oder technische Unterstützung möglich oder in einer geringeren Anzahl der Lebensbereiche auch mit personeller oder technischer Unterstützung nicht möglich ist“ (Art. 25a § 99 Abs. 1 BTHG). Das Nähere soll durch ein Bundesgesetz bestimmt werden (Art. 25a § 99 Abs. 7 BTHG).
Als Grundlage für dieses Bundesgesetz wurde im Rahmen der Umsetzungsunterstützung des BTHG festgelegt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in den Jahren 2017 und 2018 die rechtlichen Wirkungen von Art. 25a § 99 auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe untersucht und mit dem Ziel konkretisiert, den leistungsberechtigten Personenkreis beizubehalten (Art. 25 Abs. 5 BTHG).
Mit dieser Untersuchung hat das BMAS die Arbeitsgemeinschaft ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH, transfer – Unternehmen für soziale Innovation, Universität Kassel (Prof. Dr. Felix Welti) und Dr. med. Matthias Schmidt-Ohlemann als Forschungsvorhaben „Rechtliche Wirkungen von Artikel 25a § 99 BTHG auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe“ beauftragt. Im September 2018 erfolgte die Veröffentlichung des Abschlussberichts als Bundestagsdrucksache 19/4500.
Das Ergebnis des Abschlussberichts ist, dass auch bei Anwendung verschiedener Berechnungsvarianten anhand der ICF eine Restgruppe bleibt, die unterschiedlich groß ausfällt, aber nicht gänzlich aufgelöst werden kann und wahrscheinlich aus dem leistungsberechtigten Personenkreis herausfallen würde (BT-Drs. 19/4500: 89). Zugleich hat die Auswertung der ergänzenden Interviews aber auch zu der wesentlichen Erkenntnis geführt, dass ein erheblicher Teil von Personen, der heute keine Leistungen der Eingliederungshilfe bezieht, zum leistungsberechtigten Personenkreis neu hinzukommen würde (ebd.: 90). Das Kriterium, dass der leistungsberechtigte Personenkreis durch das neue Verfahren unverändert bleiben soll, wird mit einer quantifizierenden Neudefinition somit nicht erfüllt (ebd.: 90) (Weitere Informationen unter: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/beteiligen/fd-leistungsberechtigter-personenkreis/).
Nachdem im Rahmen des Forschungsvorhabens eine quantifizierende Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe ausgeschlossen wurde, stellt sich nun die Frage, ob eine qualitative Ausgestaltung anhand der ICF möglich ist. Das BMAS plant, im Rahmen eines partizipativen Beteiligungsprozesses Kriterien zur Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises zu erarbeiten (BT-Drs. 19/3592: 48; Rombach 2018: 12). Bis zur Neudefinition des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe durch ein Bundesgesetz bleibt die bisherige Definition bestehen.
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