Komponente der personbezogenen Faktoren
Wie ist der Stand zur Entwicklung der Komponente der personbezogenen Faktoren? Die Definition gehört zu den „zukünftigen Entwicklungen“, die bereits 2005 für die ICF vorgesehen waren. 2017 steht die Ergänzung noch immer aus, wie auch die DVfR in ihrer Stellungnahme anmerkt. Lässt sich auf eine Regelung, die unvollständig ist, überhaupt aufbauen?
Entwurf der DGSMP
Es gibt weiterhin einen Entwurfsstand von der Arbeitsgruppe ICF des Fachbereichs II der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). Ein frei verfügbarer Vortrag hierzu von Dr. med. Wolfgang Cibis (BAR) und Dr. med. Sabine Grotkamp (MDK Niedersachsen) ist unter folgendem Link abrufbar:
Klassifizierung personbezogener Faktoren – Probleme und Praxis
Grundsätzlich ist die Frage, ob so hoch zu individualisierende Faktoren – wie personenbezogene – überhaupt erschöpfend zu klassifizieren sind. Domänen der personenbezogenen Faktoren zu benennen, die Hinweise geben, welche Bereiche denn ggf. mit oder für eine Person individualisiert und „funktional“ erhoben werden sollten (weil diese einen Einfluss auf die Teilhabeplanung haben könnten) ist sicher sinnvoll, das leistet der oben benannte Entwurfsstand.
Für die Praxis – insbesondere im Kontext von Instrumenten zur Gesamt- bzw. Teilhabeplanung – lässt sich feststellen, dass einige „personenbezogene“ Faktoren (wie z. B. Alter, Geschlecht) regelhaft sowohl von Leistungsträgern wie Leistungserbringern bereits in den sogenannten Basisdaten bzw. Anamnesedaten erfasst sind. Im Einzelfall wäre dann zu entscheiden, welche weiteren personenbezogenen Daten für einen konkreten Teilhabeplan sinnvoll einzubeziehen wären. Vor dem Hintergrund bestehender wie auch der neuen EU-Anforderungen an Datenschutz (gültig ab 25. Mai 2018: Rechtmäßigkeit, Zweckbindung, Datenminimierung, Richtigkeit, Zeitliche Beschränkung/Speicherbegrenzung, Integrität und Vertraulichkeit sowie eine Rechenschaftspflicht der Verantwortlichen für die Einhaltung dieser Grundsätze) ist streng darauf zu achten, dass gerade bei den personenbezogenen Faktoren nur die für den Gesamtplan/Teilhabeplan notwendigen Daten hier dokumentiert werden dürfen.
Fehlende Kodifizierung durch die WHO
Die personbezogenen (Kontext-)Faktoren wurden von der WHO zunächst bewusst nicht kodifiziert, da darin eine Gefahr für die Menschen mit Behinderungen gesehen wurde, ihre Behinderung zu personalisieren, zu unzutreffenden Beschreibungen im Sinne von „Merkmalszuweisungen“ zu Personen zu kommen oder zu stark in die Persönlichkeitsrechte einzugreifen, auch im Hinblick auf den Schutz persönlicher Daten.
Erhebung personenbezogener Faktoren in der Praxis
In der Praxis erweisen sich jedoch personbezogene Faktoren oft als wichtig, wenn es um Wünsche, Teilhabeoptionen und Konkretisierung von Zielen geht. In der medizinischen und pädagogischen Praxis werden solche personbezogenen Faktoren ohnehin erhoben und verwendet, wenngleich nicht systematisch und oft auch nicht explizit. Darin liegt ein mögliches Risiko, indem diese Faktoren unausgesprochen und damit nicht überprüfbar Entscheidungen zugrunde gelegt werden.
Vorschlag der DGSMP
Deshalb hat eine AG der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention einen Vorschlag für eine mögliche Erfassung und Codierung solcher personbezogener Faktoren erarbeitet und öffentlich einer Diskussion zugänglich gemacht. Diese Veröffentlichung ist teilweise kritisch aufgenommen worden, da darin die mögliche Vorgehensweise bei der Erhebung (und ihre Gefahren) und ihre mögliche missbräuchliche Verwendung einigen Kritikern nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Die Diskussion wird laufend geführt, u. a. in den Anwenderkonferenzen zur ICF (s. dort).
Hier einige Unterlagen dazu:
- Grotkamp S./Cibis, W./Behrens, J. et al. (2010): Personbezogene Faktoren der ICF – Entwurf der AG „ICF“ des Fachbereichs II der deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). In: Gesundheitswesen, 72, S. 908-916.
- DIMDI (Hg.) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Neu-Isenburg: Medizinische Medien Informations GmbH.
- Geyh, S./Peter, C./Muller, R. et al. (2011): The Personal Factors of the International Classification of Functioning, Disability and Health in the Literature. A Systematic Review and Content Analysis. In: Disability & Rehabilitation, 33, S. 1089-1102.
- Viol, M./Grotkamp, S./van Treeck, B. et al. (2006): Personbezogene Kontextfaktoren, Teil I. Ein erster Versuch zur systematischen, kommentierten Auflistung von geordneten Anhaltspunkten für die sozialmedizinische Begutachtung im deutschen Sprachraum. In: Gesundheitswesen, 68, S.747-759.
- Viol, M./Grotkamp, S./Seeger, W. (2007): Personbezogene Kontextfaktoren (Kurzversion), Teil II. In: Gesundheitswesen, 69, S. 34-37.
- BAR (2011): Aktuelles zur Weiterentwicklung der ICF. In: Reha-Info der BAR – Rehabilitation, 50 (5).
- (2012): Stellungnahme der Arbeitsgruppe ICF der DGRW zu „Personbezogene Faktoren der ICF – Entwurf der AG „ICF“ des Fachbereichs II der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP)“. In: Rehabilitation, 51, S. 129-130.
Aktuelle Auffassungen und Entwicklung
Inzwischen hat sich aber die Auffassung durchgesetzt, so z. B. in den letzten Ergebnispapieren der BAR, dass die personbezogenen Faktoren bei der Beschreibung von Behinderung, bei der Bedarfsermittlung (z. B. für Rehabedarf), bei der Hilfeplanung etc. berücksichtigt werden sollen, auch wenn noch keine konsentierte Kodifizierung vorliegt.
Dies ist möglich, da die Verwendung der ICF ja nicht primär auf die Anwendung als Codierung zielt, sondern auf die Verwendung des biopsychosozialen Modells, das die ICF „nur“ operationalisiert. Ein solches Vorgehen ist dann sinnvoll, wenn diese Faktoren für die zu treffenden Entscheidungen relevant sind oder sein können. Dies ist im Zweifelsfall je nach Fragestellung festzustellen.
Insofern ist es für die Anwendung des biopsychosozialen Modells und der vorliegenden Elemente der ICF nicht von erheblicher Relevanz, ob die personbezogenen Faktoren bereits kodifiziert vorliegen oder nicht.
Auch die anderen Kontextfaktoren sind ja nur grob beschrieben. Deshalb hat sich eine Arbeitsgruppe auf der Ebene der BAR (ausgehend vom Sachverständigenrat der Ärzteschaft bei der BAR) gebildet, die sich der Operationalisierung und Erfassung aller Kontextfaktoren widmen wird. Diese AG wird im Mai 2018 ihre Arbeit aufnehmen.