Zuständiger Eingliederungshilfeträger
Kind lebte in 2015 mit Eltern in Hessen. Aus familiären Gründen erfolgte durch unser Jugendamt eine Unterbringung in einer Erziehungsstelle gem. § 35a SGB VIII. Das Kind hatte u.a. einen festgestellten Autismus sowie einen Förderbedarf Lernen (IQ 73) und eine posttraumatische Entwicklungsstörung.
Gemäß § 86(6) SGB VIII erfolgte ein Zuständigkeitswechsel an das Jugendamt am Ort der Pflegefamilie. Nun wurde letztes Jahr festgestellt, dass der IQ des Kindes nur bei 62 sei. Daher begehrt das bisherige Jugendamt nun die Fallübernahme im Fachdienst Inklusion und Teilhabe (= örtlicher Eingliederungshilfeträger). Fraglich ist, ob in § 98 Abs. 1 Satz 1 SGB IX mit dem „Zeitpunkt der ersten Antragsstellung“ der Antrag gem. § 35a SGB VIII aus 2015 gemeint sein kann oder nicht eher ein erster Antrag im SGB IX, da der Verweis auf § 108 SGB IX erfolgt. Im § 108 SGB IX wird auf „Leistungen aus diesem Teil“, also ab § 90 SGB IX verwiesen (nicht auf Leistungen generell, z.B. auch aus dem SGB VIII). Also anders gefragt: Kann heute bei einer nun festgestellten Mehrfachbehinderung und einem erstmaligen Bedarf aus dem SGB IX der g.A. von vor 6 Jahren maßgeblich sein oder begründet nicht der gewöhnliche Aufenthalt in der Pflegefamilie von heute für den Leistungsberechtigten die Zuständigkeit des für den jetzigen Wohnort zuständigen örtlichen Eingliederungshilfeträgers?
Antwort:
Zuständiger Eingliederungshilfeträger
Die Beteiligten gehen nach der Sachverhaltsschilderung davon aus, dass seit der IQ-Testung der Vorrang des Teil 2 SGB IX vor dem SGB VIII nach § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII greift und demnach die vorrangige sachliche Leistungszuständigkeit beim Träger der Eingliederungshilfe liegt. Zunächst ist grundsätzlich zu fragen, ob eine Fallübergabe überhaupt zulässig ist.
Nach Auffassung des BSG (01.03.2018 - B 8 SO 22/16 R) ist eine Fallübergabe im Anwendungsbereich des § 14 SGB IX ausgeschlossen. Der VGH München hat in einer früheren Entscheidung (07.10.2013 - 12 B 11.1886) einen Anspruch auf Fallübernahme im Zusammenhang mit einem bestehenden Kostenerstattungsanspruch bejaht. Das BVerwG (22.06.2017 - 5 C 3.16) hält Fallübergaben bei Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zwischen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe für zulässig. In der Praxis sind Fallübergaben bei Wechsel der Zuständigkeit üblich.
Soweit man der Auffassung ist, dass eine Fallübergabe bei vorliegendem Sachverhalt zulässig ist, richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Trägers der Eingliederungshilfe nach § 98 SGB IX.
§ 98 Abs. 4 SGB IX enthält eine Sonderregel für stationäre Aufenthalte. Für die Definition des stationären Aufenthalts ist auf die Definition der stationären Einrichtung nach § 13 SGB XII zurückzugreifen (Bieback in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB IX, § 98 Rn. 11). Die Unterbringung in einer Pflegefamilie stellt danach keine stationäre Einrichtung dar (BSG 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R) und die Sonderregel greift nicht ein, da nicht von einem stationären Aufenthalt auszugehen ist. Die Übergangsregelungen nach § 98 Abs. 5 SGB IX bleiben auch außer Betracht, da keine Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII am 31.12.2019 gewährt wurden. Deshalb richtet sich die örtliche Zuständigkeit vorliegend nach § 98 Abs. 1 SGB IX. Danach ist der Träger der Eingliederungshilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich die leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung nach § 108 Abs. 1 SGB IX hat oder in den zwei Monaten vor den Leistungen einer Betreuung über Tag und Nacht zuletzt gehabt hatte (§ 98 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Die Unterbringung in einer Pflegefamilie dürfte nach allgemeinem Verständnis eine Betreuung über Tag und Nacht darstellen und insoweit als vorrangige Alternative maßgebend sein. D.h. die örtliche Zuständigkeit des Trägers der Eingliederungshilfe liegt dort, wo die leistungsberechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den zwei Monaten vor den Leistungen einer Betreuung über Tag und Nacht zuletzt hatte.