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Das Bedarfsermittlungsverfahren nach § 118 SGB IX - Wo stehen die Träger der Eingliederungshilfe in der Anwendung der Bedarfsermittlungsinstrumente?
Das Bedarfsermittlungsinstrument nach § 118 SGB IX soll eine bundesweit einheitliche Grundlage zur Bedarfsermittlung schaffen und gleichwertige sowie vom Wohnort unabhängige Lebensverhältnisse für Menschen mit Behinderungen ermöglichen. Die Ermittlung des individuellen Bedarfes orientiert sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Beteiligung beendet –
Beitrag #1005
Ein hoffnungsvoller Ansatz hat in der Umsetzung versagt.
Mit dieser Aussage lässt sich aus Sicht der Sozialpsychiatrischen Dienste in Deutschland die mit dem BTHG eingeführte Anwendung der Bedarfsermittlungsverfahren charakterisieren.
Leistungen der Teilhabe bzw. Eingliederungshilfe für psychisch erkrankte oder seelisch behinderte Menschen wurden vor dem BTHG von vielen Sozialpsychiatrischen Diensten (SpDi) organisiert und begleitet. Die SpDi erhoben den Bedarf und leiteten in Abstimmung mit den Sozialverwaltungen die Maßnahmen ein. Sie haben in enger Abstimmung mit den Leistungserbringern die Unterstützungsmaßnahmen flankiert und gemeinsam mit den Leistungsberechtigten an wechselnde Bedarfe angepasst. Als großes Defizit hat sich dabei immer wieder herausgestellt, dass es kaum selten möglich war, andere Sozialleistungsträger wie Krankenkassen, Rentenversicherung und Arbeitsverwaltung in diesen Prozess mit einzubeziehen. Seelisch behinderte Menschen sind in der Regel gleichzeitig leistungsberechtigt gegenüber der Krankenversicherung und der Eingliederungshilfe. Viele von ihnen haben daneben genügend Voraussetzungen für eine Teilhabe am Erwerbsleben, die allerdings gut gefördert werden müssen. Eine unter den verschiedenen beteiligten Sozialleistungsträgern abgestimmte Hilfeleistung fand bisher kaum statt, vielfach wurden die Maßnahmen ohne Bezug aufeinander geplant und erbracht.
Das BTHG versprach nun endlich „Leistungen wie aus einer Hand“, die über Teilhabeplanverfahren geregelt werden und eine Kooperation und Koordination der Rehabilitationsträger befördern sollen. Nach 5 Jahren Erfahrung mit den Bedarfsermittlungsinstrumenten zeigt sich, dass diese Versprechen nicht umgesetzt werden. Es finden nur sehr wenig Teilhabeplanverfahren statt, die Bedarfsermittlung ist in den Bundesländern fast ausschließlich auf die soziale Teilhabe in Zuständigkeit der Sozialämter ausgerichtet.
Eine Umfrage des bundesweiten Netzwerk Sozialpsychiatrischer Dienste (www.sozialpsychiatrische-dienste.de) im Oktober 2023 ergab, dass nach Anwendung des BTHG die Mitwirkung der SpDi an den Bedarfsermittlungsverfahren gegenüber der Zeit vor dem BTHG erheblich zurückgegangen ist. Eine Bedarfsermittlung durch die SpDi findet nur noch in 30 % der Verfahren statt. Die Federführung in den Verfahren für seelisch behinderte Menschen durch die SpDi wird nur noch von 3 der an der Umfrage beteiligten SpDi anerkannt, vor dem BTHG waren es 14.
Durch die vorrangige Zuständigkeit der Sozialverwaltungen werden die Bedarfsermittlungen für psychisch erkrankte Menschen überwiegend durch eigene Fachkräfte der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger durchgeführt. Die fachliche Expertise der SpDi wurde in den wenigen verbleibenden Beteiligungen fast ausschließlich auf die fachärztliche Stellungnahme reduziert. Diese Rücknahmen der Beteiligung der SpDi erfolgten überwiegend durch Ausführungsregelungen der überörtlichen und Organisations-Entscheidungen der örtlichen Träger.
Einige SpDi haben ihre Mitwirkung an der Bedarfsermittlung aktiv aufgekündigt, weil der damit verbundene Verwaltungsaufwand als unverhältnismäßig erlebt wurde. Die Bedarfsermittlungsverfahren haben sich als zu bürokratisch und mit hohen Dokumentationsanforderungen entwickelt. Der Formularsatz des niedersächsischen B.E.Ni 3.1 umfasst mehr als 89 Seiten! Es werden bspw. differenzierte Zielplanungen gefordert, die einzeln abgestimmt und dokumentiert werden sollen, damit eine Überprüfung der vereinbarten Ziele erfolgen kann. Bei einem oftmals dynamischen Verlauf einer psychischen Erkrankung müssen diese Zielplanungen häufig wieder mit hohem Aufwand modifiziert werden. Hier muss dringend ein verändertes Verfahren eingesetzt werden, das dem besonderen Bedarf der psychisch erkrankten Menschen besser entspricht.
Die Rückführung der Bedarfsermittlungsverfahren von den SpDi an die Sozialämter hat zur Folge, dass die Expertise der SpDi in der Einzelfallsteuerung und in der Koordination der Angebotslandschaft nicht genutzt wird. Eine Kernaufgabe der SpDi ist die Planung und Koordination von Hilfen im Einzelfall, damit der komplexe Hilfebedarf von Menschen mit psychischen Störungen fachlich kompetent festgestellt und in geeignete Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen eingesteuert wird. Die hohe fachliche Kompetenz der SpDi ergibt sich aus deren Arbeitsauftrag, in dem sie selbst Hilfeleistungen, insbesondere für schwer kranke Menschen, auch aufsuchend erbringen und dementsprechend auf eigene praktische Erfahrungen im Hilfeprozess zurückgreifen können. Eine weitere Kernaufgabe der SpDi ist die Koordination und Steuerung der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen in der Kommune. SpDi haben nach den Psychisch Kranken Gesetzen eine Steuerungsfunktion in gemeinde- oder sozialpsychiatrischen Verbünden. Sie sorgen für eine bedarfsgerechte Ausgestaltung der Versorgungsstruktur und koordinieren das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungserbringer.
Diese Kernaufgaben qualifizieren die SpDi für eine verantwortliche Durchführung von Bedarfsermittlungsverfahren. Sie sind darüber hinaus unverzichtbar bei der Umsetzung von Gesamt- und Teilhabeplanverfahren. Es ist an der Zeit, dass diese Ressource auch nach den Neureglungen durch das BTHG wieder herangezogen wird.
Beitrag #1004
Ist es richtig, dass die Anwendung des Teilhabe-Instrument-Berlin (TIB) ausgesetzt ist? Wie wird denn dann aktuell der Bedarf erfasst?
Beitrag #1003
Gibt es bereits neue Instrumente, mit denen die ermittelten Bedarfe in Leistungen überführt werden können? Wie funktioniert in den Bundesländern konkret die Bestimmung der Personalmenge aus den ermittelten Bedarfen heraus?
Beitrag #1002
In welchen Bundesländern gibt es bereits Instrumente in leichter Sprache? Gerade bei Leistungsberechtigten mit geistigen Behinderungen sind die Fragen aber auch der Umfang der Instrumente doch sehr groß und die Fragen zu komplex. Gerade wenn Gespräche im Dialog real bestenfalls im Umfang von 10- max. 30 Minuten möglich sind.
Beitrag #1001
Als Fachdienst beim Kostenträger der Eingliederungshilfe halte ich es für im Sinne der Personenzentrierung sinnvoll, die Bedarfsermittlung gemeinsam mit dem Jugendamt durchzuführen, wenn in einem Fall sowohl EGH als auch Jugendhilfe benötigt werden, bei der LP aber keine Mehrfachbehinderung mit seelischer Behinderung vorliegt. Wie kann es gelingen, Gesamtplan und Hilfeplan wie "aus einer Hand" zu erstellen, zumal dann, wenn die Erreichung der Teilhabe-Ziele und die Erreichung der Ziele der Jugendhilfe einander bedingen?
(Beispiel: Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie gem. § 80 SGB IX und zusätzliche Annexleistungen der Jugendhilfe in Form einer SPFH gem. § 31 SGB VIII.)
Beitrag #1000
In Niedersachsen sind wir meiner Meinung nach in einem festgefahrenen Prozess. Das Land Niedersachsen hat sich mit der falschen Anwendersoftware auf den Weg gemacht und sieht hierbei nicht ein, dass die Software nicht zeitgemäß und für die Bedürfnisse der Kommunen nicht geeignet ist. Die Verantwortung schieben sie hierbei gekonnt auf die Kommunen als Lizenznehmer der Anwendung. Dass diese Software nur für abrechnungsrelevante Inhalte verwendet wurde und nicht als Dokumentationsprogramm, wird hierbei jedoch komplett ausgeblendet. Eine Refinanzierung des zusätzlichen Aufwandes wird verkompliziert und somit gibt es auch hier einen Stillstand innerhalb der Kommunen. Das Verfahren ist mehr als aufgebläht und raubt jedem Beteiligten die letzte Freude an der Arbeit.
Dazu kommt, dass das B.E.Ni-Verfahren für die Betroffenen Personen nicht zu verstehen oder zu überblicken ist. Durch meine Erfahrung kann ich berichten, dass die Betroffenen weniger beteiligt und weniger eingebunden sind als jemals zuvor. Die Mitarbeiter im Sozialamt sind nur noch mit der Dokumentation vereinzelter, weniger Fälle beschäftigt und arbeiten immer weniger mit dem Menschen mit Behinderung.
In meinen Augen muss das Land Niedersachsen endlich die Notbremse ziehen und einen praktikablen und anwenderfreundlichen Weg einschlagen. Die Praktiker müssen ernsthaft gehört und beteiligt werden. Es braucht eine zeitgemäße, spezifisch für die Bedarfsermittlung entwickelte Software, ein übersichtliches (auf das Wesentliche beschränkte) B.E.Ni-Verfahren sowie eine Refinanzierung für die Kommunen.