Anmerkungen zu Rosenow, NDV 12/2021

2. Mai 2022

Anmerkungen zum Beitrag von Roland Rosenow im NDV 12/2021

In einem im letzten Jahr publizierten Beitrag im NDV des Deutschen Vereins kritisierte Roland Rosenow eine zu langsame Umsetzung der Vorgaben des BTHG in den Bundesländern, den Abschluss von Übergangsvereinbarungen am Beispiel Baden-Württemberg sowie Regelungen in WBVG-Verträgen, durch die es zur Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen kommen kann. Marcus Rietz, wissenschaftlicher Referent im Projekt Umsetzungsbegleitung BTHG, hat dazu einige Anmerkungen verfasst.

Umsetzung des BTHG

Der Autor leitet seinen Beitrag damit ein, dass der Teil 2 des SGB IX, also das Eingliederungshilferecht, zum 1. Januar 2020 und damit drei Jahre nach Verkündung in Kraft getreten sei. Dies ist richtig. Erwähnenswert ist aber, dass der Bundesgesetzgeber eine sukzessive Umsetzung des BTHG gerade vorgeben hat. Bei den gesetzlichen Änderungen zum 1. Januar 2020 handelte es sich um die dritte von vier Reformstufen.  Dementsprechend sind bereits zwei vorangegangene Reformstufen1 umgesetzt worden und umfangreiche gesetzliche Änderungen auf Landesebene erfolgt.

Aus Sicht des Autors geschah in den Jahren 2017 bis 2019 wenig, um die Umsetzung des neuen Rechts vorzubereiten. Das ist nicht richtig und wird dem Aufwand, mit dem alle Akteure des sozialrechtlichen Dreiecks die Umsetzung des BTHG vorangetrieben haben, nicht gerecht. Vielmehr wurden in den ersten drei Jahren nach Verabschiedung des BTHG u.a. die Träger der Eingliederungshilfe bestimmt, neue Bedarfsermittlungsinstrument erarbeitet und erprobt, Personal akquiriert und qualifiziert und die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) bundesweit aufgebaut. Zudem wurden inzwischen, bis auf Bayern, in allen Bundesländern Landesrahmenverträge geschlossen, die zum Teil noch Übergangsregelungen beinhalten2.

Der Verfasser erwähnt in seinem Beitrag zudem nicht, dass bei der Verhandlung der Landesrahmenverträge nach § 131 Abs. 2 SGB IX die durch Landesrecht bestimmten maßgeblichen Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen bei der Erarbeitung und Beschlussfassung der Rahmenverträge mitgewirkt haben bzw. noch mitwirken. Auch die Arbeitsgemeinschaften nach § 94 Abs. 4 SGB IX, deren Aufgabe die Förderung und Weiterentwicklung der Strukturen der Eingliederungshilfe ist, sind mit Vertreterinnen und Vertretern der Verbände von und für Menschen mit Behinderungen besetzt. Wie groß der tatsächliche Einfluss der Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen war oder ist, ist sicherlich diskussionswürdig. Diese aber gänzlich unerwähnt zu lassen, wird deren Tätigkeit in den Ländern nicht gerecht und erweckt zudem den Eindruck, dass deren Partizipation schlicht nicht stattgefunden habe.

Thematischer Schwerpunkt des Autors ist die in Baden-Württemberg im Rahmen der Übergangsvereinbarungen erfolgte budgetneutrale Umstellung.

Vorab ist zu bemerken, dass inzwischen auch in Baden-Württemberg ein Landesrahmenvertrag geschlossen wurde, der mit Wirkung zum 1. Januar 2021 in Kraft getreten ist. Die Übergangsvereinbarung vom 18. April 2019 gilt gemäß § 85 Abs. 1 Spiegelstrich 1 LRV-BaWü nur für Einzelvereinbarungen nach § 125 SGB IX, die bereits von dieser Übergangsvereinbarung erfasst wurden und die Übergangsvereinbarung vom 29. Oktober 2021 gemäß § 85 Abs. 1 Spiegelstrich 2 LRV-BaWü dann für Vereinbarungen nach § 125 SGB IX ab 1. Januar 2022, die von dieser Übergangsvereinbarung umfasst sind.

 

Barbetrag vs. Barmittelanteil

Der Verfasser führt richtig aus, dass im Eingliederungshilferecht keine dem § 27 b SGB IX entsprechende Vorschrift existiert. Dies ist für die Eingliederungshilfe vom Gesetzgeber auch nicht vorgesehen gewesen. Der starre Barbetrag wurde zugunsten eines in der Höhe flexiblen Baranteils abgelöst. Zu ergänzen ist, dass im Rahmen der mit der leistungsberechtigten Person gemeinsam erfolgenden Beratung zur Leistungserbringung der Barmittelanteil im Gesamtplanverfahren abgestimmt wird (vgl. § 119 Abs. 2 Satz 2 SGB IX). Das Ergebnis ist entsprechend im Gesamtplan zu dokumentieren (§ 121 Abs. 4 Nr. 6 SGB IX). Dabei ist eindeutig vom Regelsatz nach § 27a Abs. 3 SGB XII auszugehen. Der § 27b Abs. 2 SGB XII ist gerade nicht mehr Rechtsgrundlage für Grundsicherungsleistungen von Bewohnerinnen und Bewohnern in besonderen Wohnformen. Wenn der Verfasser aber kritisiert, dass ein die Zahlungsschuld auslösender Anspruch in der Übergangsvereinbarung nicht geschaffen wurde, so ist richtig zu stellen, dass diese Vereinbarung gar nicht Rechtsgrundlage für unmittelbare Zahlungsverpflichtungen der leistungsempfangenden Person gegenüber dem Leistungserbringer sein kann.

Öffentlich-rechtliche Vereinbarung und zivilrechtlicher Vertrag

Zu differenzieren ist zunächst zwischen dem Leistungsrecht der Eingliederungshilfe (Kapitel 1-7 SGB IX) und dem Vertragsrecht (Kapitel 8 SGB IX). Weiter ist zu differenzieren zwischen der öffentlich-rechtlichen Vereinbarung nach § 125 SGB IX und der zivilrechtlichen Vereinbarung, die in der Regel dem WBVG (Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz) unterliegt. Dies bedeutet, dass Verpflichtungen aus dem WBVG nur für die Vertragsparteien des WBVG-Vertrages gelten (vgl. zum Anwendungsbereich § 1 WBVG), nicht aber auf die Vereinbarung nach § 125 SGB IX Anwendung finden.

Die Schlussfolgerung des Verfassers, das aus der Berechnung der mtl. Eingliederungshilfeleistung gem. § 6 Abs. 11 Übergangsvereinbarung vom 18. April 2019 dann offenbar eine Verpflichtung der leistungsempfangenden Person folgen soll, die ihr zustehende Regelleistung abzgl. des alten mtl. Barbetrags und anteiliger Bekleidungspauschale an den Leistungserbringer zu zahlen, ist eben keine Folge einer öffentlich-rechtlichen Vereinbarung. Eine naheliegende Folge wäre eine beim Leistungserbringer sinkende Vergütung, auch wenn dies vor dem Hintergrund der durch das BTHG gestiegenen Anforderung auch an die Leistungserbringer schwierig zu vermitteln sein dürfte. Für Leistungsempfänger, die überhaupt nicht Vertragspartei der vorgenannten Vereinbarung sind, würde es einer zivilrechtlichen vertraglichen Verpflichtung bedürfen, die im WBVG-Vertrag enthalten sein müsste und die einer rechtlichen Überprüfung nur dann standhalten würde, wenn die Anforderungen aus WBVG und BGB erfüllt sind.

Mehrbedarfszuschläge und Leistungserbringung

Soweit der Verfasser kritisiert, dass „Mehrbedarfszuschläge nach § 30 SGB XII abgeschöpft“ würden, bedarf dies ebenfalls einer genaueren Betrachtung. Der Mehrbedarfszuschlag des § 30 Abs. 1 SGB XII umfasst pauschal die Bedarfstatbestände und Aufwendungen, die gerade auf das eingeschränkte Gehvermögen zurückzuführen sind3. Nur um diese kann es dem Verfasser gehen. Wenn seitens des Leistungserbringers entsprechende Leistungen für die/den Bewohner/in erbracht und ausreichend detailliert im Vertrag ausgewiesen werden, erscheint eine Bezahlung aus dem Mehrbedarfszuschlag nur sachgerecht. Maßgeblich ist auch hier der Vertrag zwischen Bewohner/in und Leistungserbringer. Insofern ist auch die vom Verfasser zitierte Textpassage, „Maßgeblich ist, wer für die Deckung des jeweiligen Mehrbedarfs sorgt.“, aus § 6 Abs. 11 der Übergangsvereinbarung vom 18. April 2019 gar nicht zu beanstanden. Im Umkehrschluss besteht eine Zahlungspflicht denknotwendig nicht, wenn eine entsprechende Leistung nicht erbracht wird. Gleiches gilt im Übrigen auch für Hygieneartikel oder Nahrungsmittel, die bei Beschaffung durch den Leistungserbringer diesem vom Bewohner/in vergütet werden müssen. Wenn entsprechende Regelungen in WBVG-Verträgen nicht den Anforderungen aus WBVG und BGB entsprechen, so sind diese zivilrechtlich anfechtbar. Dies ist auch in der Rechtsprechung nochmals für etwaige Doppelzahlungen der leistungsempfangenden Person gegenüber dem Leistungserbringer bestätigt worden4.

Wenn dagegen ein Leistungserbringer Inhalte aus der Vereinbarung nach § 125 SGB IX beanstanden möchte, so stehen neben Nach- bzw. Neuverhandlung mit dem Leistungsträger, auch das Schiedsstellenverfahren nach § 132 SGB IX sowie der ebenfalls durch das BTHG in § 123 Abs. 6 SGB IX eingeführte Klageweg zur Verfügung.

Schlussbemerkung

Die Leistungserbringer, die besondere Wohnformen betreiben, erhalten durch die Leistungstrennung keine pauschale Finanzierung mehr und besitzen somit auch nicht mehr die Möglichkeit einer einrichtungsinternen Querfinanzierung. Eine temporäre budgetneutrale Umstellung kann als Kompromiss gesehen werden, um Leistungserbringern die Umstrukturierung hin zum kosteneffizienteren Betrieb zu ermöglichen. Dennoch muss für Leistungsträger und Leistungserbringer die personenzentrierte Leistungserbringung und die selbstbestimmte Teilhabe der Menschen mit Behinderungen im Mittelpunkt stehen, die zum einen mit entsprechenden Leistungsvereinbarungen nach § 125 SGB IX ermöglicht wird und zum anderen „faire“ WBVG-Verträge braucht. Kostensteigerungen in der Eingliederungshilfe zu vermeiden, indem Kosten auf die Menschen mit Behinderungen umgelegt werden, widerspricht den Zielen des BTHG.

Fußnoten

1 Eine Übersicht zu den jeweils stufenweise in Kraft getretenen Änderungen ist hier abrufbar.

2 Stand 28.02.2022

3 Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Krauß, 7. Aufl. 2021, SGB XII § 30 Rn. 5

4 SG Heilbronn, 14.12.2021 – S 2 1228/20

Artikel Rosenow, NDV 12/2021

Den Artikel von Roland Rosenow aus dem NDV 12/2021 können Sie hier herunterladen:

Artikel Rietz, NDV 05/2022

Den Artikel von Marcus Rietz aus dem NDV 05/2022 können Sie hier herunterladen:

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