2024 – sieben Jahre nach der ersten Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Welche Erfolge wurden in der Umsetzung des BTHG bisher erzielt? Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit existieren? Was sind die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Realisierung des BTHG?
Diese drei Fragen beantworten hier monatlich wechselnde Vertreterinnen und Vertreter aus Bund, Ländern, Kommunen, Wohlfahrts- und Fachverbänden, Interessensvertretungen sowie der Politik. Durch ihre einzigartige Perspektive und wertvollen Erfahrungen aus der Praxis und Wissenschaft geben die Interviewten wertvolle Einblicke in die Umsetzung des BTHG.
![Porträtfoto von Dr. Irene Vorholz, Beigeordnete des Deutschen Landkreistages](/w/gfx/third/personen/hochkant/foto-vorholz.jpg)
© DLT/Himsel
Dr. Irene Vorholz, Beigeordnete des Deutschen Landkreistages
Welche Erfolge konnten aus Ihrer Sicht in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes bisher erzielt werden? Von welchen Änderungen profitieren Menschen mit Behinderungen am meisten?
Der größte Vorteil für die leistungsberechtigten Menschen ist sicherlich die weitgehende Freistellung von Einkommen und Vermögen. Von den Landkreisen als in vielen Ländern zuständigen Leistungsträgern wird vor allem der erhebliche Aufwand kritisiert. Die Vorgaben zur Bedarfsermittlung, zum Gesamt- sowie zum Teilhabeplan sind sehr komplex. Sowohl die Träger der Eingliederungshilfe als auch die Leistungserbringer sowie insbesondere auch die behinderten Menschen beklagen den bürokratischen Aufwand. Dies gilt auch für das neue Vertragsrecht – ohne dass damit ein unmittelbarer Nutzen für die Leistungsberechtigten verbunden wäre. Dies muss dringend vereinfacht werden.
Mit dem Bundesteilhabegesetz sollen Leistungen wie aus einer Hand ermöglicht werden. Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit sehen Sie? Welche Handlungsansätze könnten diese Hemmnisse überwinden?
Auch das Verfahren zum Teilhabeplan bei Einbeziehung weiterer Reha-Träger ist komplex und verwaltungsaufwändig. Die Eingliederungshilfe ist hierbei meistens der größte Träger. Helfen würde es, wenn der Gesetzgeber die Verantwortung der anderen Träger (nicht nur der Reha-Träger) klar benennen würde. Wir sprechen uns z. B. dafür aus, dass die Pflege vorrangig ist, sowohl im häuslichen Umfeld als auch in besonderen Wohnformen, und dass versicherte pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen die vollständigen Leistungen der Pflegeversicherung bekommen. Auch die Unterstützung behinderter Kinder müsste vollständig aus der Hand der Schule erbracht werden.
Was sind darüber hinaus Ihrer Ansicht nach die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes? Welche Schritte wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Der Deutsche Landkreistag spricht sich für die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe aus, um sie zu einem noch besseren Teilhaberecht nach den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention zu machen. Dazu gehören auch stärkere Steuerungsmöglichkeiten der Leistungsträger und eine Begrenzung der sich dynamisch entwickelnden Kosten. Insbesondere erfordert der stark zunehmende Fach- und Arbeitskräftemangel die Beschränkung auf einfache und praktikable Vorgaben ohne unnötigen Aufwand. Das Präsidium des Deutschen Landkreistags hat am 7./8. Mai 2024 „Vorschläge zur Weiterentwicklung des Bundesteilhabegesetzes (PDF-Dokument)“ verabschiedet.
![Porträtfoto von Verena Bentele, Vorsitzende des Sprecherinnenrats des Deutschen Behindertenrats und Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland](/w/gfx/third/personen/drei-fragen-an-querformat/bentele_verena_2020_1322_susie-knoll.jpg)
© Susie Knoll
Verena Bentele, Vorsitzende des Sprecherinnenrats des Deutschen Behindertenrats und Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland
Welche Erfolge konnten aus Ihrer Sicht in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes bisher erzielt werden? Von welchen Änderungen profitieren Menschen mit Behinderungen am meisten?
Mit dem BTHG wurden schrittweise die Freigrenzen für eigenes Einkommen und Vermögen bei der Kostenheranziehung erhöht. Einkommen und Vermögen von Ehe- oder Lebenspartnern werden nicht mehr angerechnet. Auch haben Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen von der Verdoppelung des Arbeitsförderungsgelds profitiert. Durch das Teilhabeplanverfahren gibt es verpflichtende Vorgaben für die Rehabilitationsträger bei der Klärung der Zuständigkeit und zur trägerübergreifenden Zusammenarbeit. Auch die Schwerbehindertenvertretungen wurden gestärkt, sie spielen eine wichtige Rolle bei der Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes.
Mit dem Bundesteilhabegesetz sollen Leistungen wie aus einer Hand ermöglicht werden. Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit sehen Sie? Welche Handlungsansätze könnten diese Hemmnisse überwinden?
Die unterschiedliche Umsetzung in den Bundesländern, zahlreiche Übergangsvorschriften, unterschiedliche Bedarfsermittlungsinstrumente und Trägerlogiken machen das Geschehen intransparent. Wenn sich weiterhin und entgegen der Absicht des Gesetzgebers das Beharrungsvermögen der Träger so ausgeprägt zeigt, sollte der Gesetzgeber eine Weiterentwicklung des SGB IX im Sinne eines einheitlichen Teilhaberechts in Betracht ziehen und einen einzigen einheitlichen Rehabilitationsträger für alle Menschen mit Behinderung oder drohenden Behinderungen schaffen.
Was sind darüber hinaus Ihrer Ansicht nach die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes? Welche Schritte wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Der Zugang zu Leistungen darf nicht abhängig vom Bundesland, der Kommune oder dem Bezirk sein, in dem ein Leistungsberechtigter wohnt. Ausschlag darf nicht die Diagnose, sondern muss der individuelle Teilhabebedarf geben. Der nächste wichtige Schritt ist daher eine neue Verordnung über den leistungsberechtigten Personenkreis. Auch wenn Bund und Länder die Kostenneutralität wollen, darf dies nicht schwerer wiegen als der individuell ermittelte Bedarf der behinderten Menschen.
![Porträtfoto von Prof. Dr. Katja Nebe, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Recht der sozialen Sicherheit der Universität Halle-Wittenberg](/w/gfx/third/personen/hochkant/katja-nebe.jpg)
© Markus Scholz
Prof. Dr. Katja Nebe, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Recht der sozialen Sicherheit der Universität Halle-Wittenberg
Welche Erfolge konnten aus Ihrer Sicht in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes bisher erzielt werden? Von welchen Änderungen profitieren Menschen mit Behinderungen am meisten?
Wir nehmen die beabsichtigte Stärkung verschiedener Akteure wahr. So sind gleich mit der 1. Reformstufe die Rechte der Schwerbehindertenvertretungen gestärkt worden. Dort, wo Schwerbehindertenvertretungen aktiv sind, werden die Rechte behinderter Menschen in der Arbeitswelt besser durchgesetzt. Aber auch die aufgewertete Rolle der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation und die Verstetigung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) führt zu einer deutlich intensiveren Auseinandersetzung mit den Zielen des BTHG und den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.
Mit dem Bundesteilhabegesetz sollen Leistungen wie aus einer Hand ermöglicht werden. Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit sehen Sie? Welche Handlungsansätze könnten diese Hemmnisse überwinden?
Für die trägerübergreifende Zusammenarbeit braucht es Reformwillen und einen grundlegenden Bewusstseinswandel. Solange die Träger als oberste Maßgabe weiterhin an ihren jeweiligen Leistungsgesetzen festhalten, anstatt vom Dachgesetz des SGB IX her zu denken, und solange die dringend erforderlichen Fortbildungen nicht stattfinden, werden die Nachteile des gegliederten Sozialsystems nicht überwunden werden. Die Rehabilitationsträger müssten sich auf übereinstimmende Ausbildungsinhalte nach den Maßgaben des SGB IX und des bio-psycho-sozialen Wechsel-Modells der ICF verständigen.
Was sind darüber hinaus Ihrer Ansicht nach die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes? Welche Schritte wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Partizipation und Personzentrierung müssen bei der Bedarfsfeststellung und Leistungsgewährung gewährleistet werden. Die verantwortlichen Ministerien müssen dies gegenüber Rehabilitationsträgern und diese wiederum gegenüber Leistungserbringern durchsetzen. Für die besonderen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen, von Menschen mit kognitiven oder psychischen oder mehrfachen Beeinträchtigungen müssen spezifische Leistungen bereitgehalten werden (aufsuchende Reha, Coaching, Fallmanagement, lebenslange Unterstützung). Hochschulen müssen für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein.
![Porträtfoto von Prof. Dr. Jeanne Nicklas Faust, Bundesgeschäftsführerin Bundesvereinigung Lebenshilfe](/w/gfx/third/personen/hochkant/jeanne-nicklas-faust_2015_foto_bernd-lammel-honorarfrei_1.jpg)
© Bernd Lammel
Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust, Bundesgeschäftsführerin Bundesvereinigung Lebenshilfe
Welche Erfolge konnten aus Ihrer Sicht in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes bisher erzielt werden? Von welchen Änderungen profitieren Menschen mit Behinderungen am meisten?
Der größte Erfolg ist, dass mit dem BTHG ein Leistungsrecht im SGB IX verankert wurde, das die Eingliederungshilfe behinderter Menschen neu und personenorientiert regelt. Mit dem Gesamt- und Teilhabeplanverfahren stehen Instrumente zur Verfügung, die eine individualisierte Unterstützung ermöglichen. Für viele Menschen mit Behinderung sind die neuen Einkommens- und Vermögensgrenzen eine deutliche Verbesserung, für Beschäftigte in der Werkstatt neben der Verdopplung des Arbeitsförderungsgeldes, die Einführung von Mitbestimmung und Frauenbeauftragten sowie eines bundesweiten Budgets für Arbeit.
Mit dem Bundesteilhabegesetz sollen Leistungen wie aus einer Hand ermöglicht werden. Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit sehen Sie? Welche Handlungsansätze könnten diese Hemmnisse überwinden?
Zwar stärkt der erste Teil des SGB IX die Verpflichtung zur Zusammenarbeit, allerdings treffen nach wie vor unterschiedliche Logiken bei Antragstellung und Bewilligung von Leistungen aufeinander. Eine verpflichtende Zusammenarbeit mit Angleichung der Antragsverfahren, wie aktuell bei der BAR in Erarbeitung, könnte bei einer Selbstverpflichtung der Träger, dies umzusetzen, zur Verbesserung führen.
Was sind darüber hinaus Ihrer Ansicht nach die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes? Welche Schritte wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Die Ausnahmesituation der letzten Jahre und die daraufhin vereinbarten Übergangsfristen haben die Durchführung der Bedarfsermittlung als Herzstück der personenorientierten Leistungsgewährung vielerorts behindert, sodass sie nicht flächendeckend umgesetzt wird. Ohne eine umfassende Bedarfsermittlung im Einzelfall laufen jedoch viele Impulse des BTHG ins Leere.
![Porträtfoto Dirk Lewandrowski, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS)](/w/gfx/third/personen/drei-fragen-an-querformat/portraet-dirk-lewandrowski.jpg)
© BAGüS
Dirk Lewandrowski, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS)
Welche Erfolge konnten aus Ihrer Sicht in der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes bisher erzielt werden? Von welchen Änderungen profitieren Menschen mit Behinderungen am meisten?
Der Erfolg eines Gesetzes misst sich daran, welche Erwartungen mit der Umsetzung verknüpft waren. Nach meiner Auffassung ist es gelungen, die Eingliederungshilfe durch die Überführung aus der Sozialhilfe in ein eigenständiges Leistungsrecht im SGB IX aus dem Fürsorgesystem herauszulösen und die Mitsprache- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Menschen mit Behinderungen zu stärken. Die verbindliche Vorgabe eines Gesamtplanverfahrens ist ein wichtiger Baustein dieser Veränderung. Auch die weitgehende Freistellung vom Einsatz von Einkommen und Vermögen macht den Wandel der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht deutlich.
Mit dem Bundesteilhabegesetz sollen Leistungen wie aus einer Hand ermöglicht werden. Welche Hemmnisse zur Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit sehen Sie? Welche Handlungsansätze könnten diese Hemmnisse überwinden?
Die Umsetzung der trägerübergreifenden Zusammenarbeit kommt ebenfalls in den gesetzlichen Regelungen zur Gesamt- und Teilhabeplanung zum Ausdruck. Das Verfahren zur Beteiligung aller betroffenen Rehabilitationsträger ist sowohl organisatorisch als auch personell sehr aufwendig. Eine rechtlich abgesicherte Vorleistungsmöglichkeit des Trägers der Eingliederungshilfe mit nachträglicher Ausgleichsverpflichtung anderer Rehabilitationsträger könnte Abhilfe leisten.
Was sind darüber hinaus Ihrer Ansicht nach die größten aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes? Welche Schritte wären aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Die größte Herausforderung bei der Umsetzung des BTHG besteht derzeit zweifelsfrei in der Anpassung und Umsetzung der Landesrahmenverträge und der entsprechenden Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen. Denn erst nach deren vollständiger Anpassung wird sich abschließend bewerten lassen, ob das Ziel des Gesetzes, nämlich verbesserte Teilhabe bei gleichzeitiger Dämpfung des Kostenanstiegs, erreicht wird. Auch die gesetzlich verbesserten Prüf- und Steuerungsmöglichkeiten der Träger der Eingliederungshilfe werden ihre volle Wirkung erst entfalten können, wenn die Vereinbarungen angepasst sind. Das Verhandlungsgeschäft zur Anpassung der vertraglichen Grundlagen erweist sich als äußerst zeitintensiv und zäh. Eine weitere Herausforderung sehe ich darin, ein gemeinsames Verständnis zur Beurteilung der Wirksamkeit von Leistungen zu finden.