Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt.

Wenn Sie den Browser Internet Explorer nutzen, stehen Ihnen nicht alle Funktionen dieser Seite zur Verfügung.
Um den vollen Funktionsumfang nutzen zu können, benutzen Sie einen aktuellen Browser (z.B. Firefox oder Edge).

Fachbeitrag von Dr. Harry Fuchs im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht: Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs - Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (November 2017)

Fachbeitrag von Dr. Harry Fuchs im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht: Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs - Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (November 2017)

4.3 Zur ICF-Orientierung der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs

Bei der Nutzung der ICF ist zwischen der Nutzung des biopsychosozialen Modells, das der ICF zugrunde liegt, einerseits und der Nutzung der ICF als Klassifikation mit ihren verschiedenen Domänen, Kategorien und Codes einschließlich der Beurteilungsmerkmale im Sinne eines Kodierungssystems andererseits zu unterscheiden. Das biopsychosoziale Modell ist ein Konzept, das davon ausgeht, dass sich Schädigungen auf den Ebenen der Körperstrukturen und -funktionen und Beeinträchtigungen der Aktivitäten und der Teilhabe unter dem Einfluss von Kontextfaktoren wechselseitig im positiven wie auch negativen Sinn beeinflussen können. Dem folgt der gegenüber der ICF engere Behinderungsbegriff in § 2 Abs. 1 SGB IX im Wesentlichen.

Die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) beobachtet bei der bisherigen Erarbeitung von Instrumenten zur Bedarfsermittlung drei grundsätzliche Herangehensweisen:

  • Das biopsychosoziale Modell wird als Leitfaden für die diskursive Bedarfsermittlung genutzt. Als Beispiele (unvollständige Aufzählung, da eine differenzierte Bewertung der einzelnen Instrumente und Verfahren hier nicht erfolgen kann) können etwa der IHP (Individueller Hilfeplan) 3.1 im Rheinland oder der THP (Teilhabeplan) in Rheinland-Pfalz gelten.
  • Zur Ermittlung des Bedarfs werden am rechtlich verfügbaren Leistungskatalog orientierte Bedarfsgruppen definiert. Für die Beschreibung und Zuordnung dieser Bedarfsgruppen wiederum werden Instrumente verwendet, die zwar einzelne Items der ICF beinhalten, jedoch keine systematische Verwendung des

biopsychosozialen Modells bzw. der ICF darstellen, z. B. das sog. Metzler-Verfahren.16 Hier werden einzelne Codes eher als Indikatoren für Unterstützungsbedarfe verwendet, nicht jedoch im Sinne einer umfassenden individuellen Bedarfsermittlung. Solche Verfahren entsprechen für sich allein betrachtet nicht den Vorgaben des BTHG in den §§ 13 und 142 i. V. m. § 141, da sie nicht den individuellen Bedarf funktionsbezogen feststellen, keine Teilhabeziele definieren und noch keine Erfolgsprognose für mögliche Teilhabeleistungen umfassen. Sie stellen lediglich eine einfache Methode dar, um Leistungsberechtigte einzelnen Bedarfsgruppen zuzuweisen, denen dann bestimmte pauschalisierte Leistungspakete und/oder Vergütungspauschalen zugeordnet werden können. Sie stellen insofern keine gesetzeskonforme Anwendung der ICF dar. Dies schließt indes ihre Verwendung z. B. bei der Zuweisung von Pflegesätzen oder Maßnahmepauschalen für definierte Bedarfsgruppen nicht aus.

  • In verschiedenen Ansätzen wird versucht, auf der Grundlage einiger selektierter ICF-Items und meist auch nur einiger herausgegriffener Lebensbereiche, deren Beschreibung eine repräsentative, valide und reliable Darstellung des Behinderungsbildes zugeschrieben wird, eine standardisierte Erfassung des Behinderungsbildes zur Ermittlung des Bedarfs vorzunehmen – z. B. im Entwurf zu einem neuen Teilhabeplan „RLP neu“. Auch hier gilt das unter Nr. 2 zu Core Sets Ausgeführte: Diese Vorgehensweise ist nicht gesetzeskonform, da der Bedarf individuell und umfassend zu ermitteln ist17.

Insgesamt ist festzustellen, dass die ICF kein Assessmentinstrument darstellt und dazu auch nicht gemacht werden kann. Weder ist sie dazu konzipiert, noch kann sie dazu umfunktioniert werden. Auch die Kodierung mit der ICF ist nicht zuletzt deshalb wenig praktikabel, weil die Beurteilungsmerkmale und damit die Schweregradabstufungen nicht operationalisiert sind und nach Auffassung der meisten Forscher in der vorliegenden Form auch nicht operationalisiert werden können; dies gilt insbesondere für die Aktivitäten und die Teilhabe sowie die Kontextfaktoren. Hinzu kommt, dass von der WHO für letztere nur im Bereich der Umwelt eine systematische Auflistung zur Verfügung gestellt wird. Die Anwender müssen sich daher eigener Auflistungen bedienen, um die relevanten Kontextfaktoren im Rahmen der Analyse der individuellen Lebenssituation berücksichtigen zu können.

Der Gesetzgeber hat 2001 im SGB IX für die funktionsbezogene Feststellung des individuellen Bedarfs (§ 10 Abs. 1 SGB IX) bewusst kein bestimmtes Instrument vorgegeben, sondern es der Selbstverwaltung der Rehabilitationsträger in gemeinsamer, trägerübergreifender Verantwortung überlassen, ein entsprechendes Instrument im Rahmen ihrer Organisationsverantwortung zu entwickeln (Gemeinsame Empfehlung Begutachtung gem. §§ 12, 13 SGB IX). Da der Gesetzgeber die ICF schon 2001 nicht als Assess-mentinstrument, sondern als weltweit einheitliche Sprachregelung verstand, hat er die Rehabilitationsträger lediglich verpflichtet, die individuell und funktionsbezogen festgestellten Beeinträchtigungen der Teilhabe „schriftlich zusammenzustellen“, d. h. trägerübergreifend in der einheitlichen Diktion der ICF zu dokumentieren.

Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber weder 2001 noch 2016 vorgegeben hat, dass die ICF von den Rehabilitationsträgern als Assessment (Erhebungsinstrument) einzusetzen ist. Die sowohl im Teil 1 indirekt (§§ 13 Abs. 2, 19 SGB IX) und im Teil 2 (§ 118 SGB IX) direkt vorgegebene Orientierung bedeutet vor allem, dass Basis der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs das sowohl der ICF wie auch der UN-BRK (vergl. dort Kontextfaktoren in Art 1) zugrundeliegende biopsychosoziale Modell sein soll. Das entspricht – wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung – auch der Praxis der Rehabilitationsträger.

Des Weiteren muss seit 2001 und auch künftig das Ergebnis der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs ICF-orientiert dokumentiert werden (§ 10 SGB IX-alt – schriftlich zusammenstellen – und § 13 Abs. 2 Satz 1 sichern die Dokumentation). Dabei muss die Dokumentation aller Rehabilitationsträger die nach § 13 Abs. 2 SGB IX zu treffenden Feststellungen ICF-orientiert wiedergeben. Die nachfolgend skizzierte Analyse einiger insbesondere in Baden-Württemberg eingesetzter Hilfeplanverfahren zeigt, dass das mit den in der ICF-Checkliste der WHO als „Kurzliste“ bezeichneten Items, die den Kapitelüberschriften der Domänen der ICF entsprechen (Teil 1 bis 3), in einheitlicher Sprache und unbürokratisch konzentriert möglich erscheint.

4.4 Analyse des Veränderungsbedarfs bei einigen in Baden-Württemberg eingesetzten Hilfeplanverfahren

Der Verfasser hat auf Bitte des Ministeriums für Soziales und Integration Baden-Württemberg zur Vorbereitung einer Sitzung der dortigen Arbeitsgruppe „Bedarfsermittlungsinstrumente“ die in verschiedenen Landkreisen zur Aufstellung des Teilhabeplans eingesetzten Instrumente sowie das auf Metzler basierende H.M.B.-W.-Verfahren (Hilfebedarf von Menschen mit Behinderung) hinsichtlich der zur Umsetzung der §§ 13, 118 SGB IX erforderlichen Änderungen analysiert.

Maßstab waren einerseits die Vorgaben des § 13 Abs. 2 SGB IX und andererseits die zu den dort geforderten Feststellungen in der ICF-Checkliste der WHO18 enthaltenen Kriterien. Das Ergebnis der Analyse wurde in der zweiten Sitzung der Arbeitsgruppe am 12.08.2017 vorgetragen und diskutiert, kann jedoch im Rahmen dieser Veröffentlichung nur stark komprimiert wiedergegeben werden.

4.4.1 Liegt eine Behinderung vor oder droht sie? (§ 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX)

Nach dem der ICF zugrundeliegenden biopsychosozialen Modell wird das Vorliegen einer Behinderung über das Vorliegen einer Schädigung der Körperfunktionen und der Körperstrukturen definiert.

Alle analysierten Instrumente enthalten eine anzukreuzende Kurzdefinition der Behinderung (z. B. körperliche Behinderung, geistige Behinderung, psychische Behinderung) sowie die Angabe der die Behinderung verursachenden Diagnose. Der dokumentierte Diagnoseschlüssel (ICD) beschreibt Art und Schweregrad der die Behinderung verursachenden Erkrankung (des Gesundheitsproblems), kann jedoch nichts zu Art und Ausprägung der darauf basierenden Beeinträchtigung der Teilhabe oder gar zur Teilhabefähigkeit aussagen.

Aus diesen Feststellungen sind danach weder die konkrete Beeinträchtigung der Körperfunktionen bzw. Schädigung der Körperstrukturen noch das Ausmaß dieser Beeinträchtigungen erkennbar. Der Hilfebedarf, vor allem aber Gegenstand, Umfang und Ausführung der Leistungen können mit Leistungen zur Teilhabe jedoch nur dann im Sinne wirksamer Leistungen definiert werden, wenn sie nicht auf eine allgemeine Behinderungsform, sondern die auf die individuelle Beeinträchtigung der Teilhabe orientiert sind.

Mit der in der ICF-Checkliste enthaltenen Kurzliste kann die Art der Schädigung der Körperfunktion bzw. der Schädigung der Körperstrukturen individuell und differenziert dokumentiert werden, z. B. Schädigung (u. a.)

  • mentaler Funktionen (11 Items)
  • Sinnesfunktionen und Schmerz (4 Items)
  • neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen (4 Items)
  • Struktur des Nervensystems
  • Strukturen, die an der Stimme und dem Sprechen beteiligt sind
  • mit der Bewegung in Zusammenhang stehende Strukturen.

Ebenso das Ausmaß der Schädigung mit der Differenzierung (u. a.)

  • keine Schädigung
  • leichte Schädigung
  • mäßige Schädigung
  • erhebliche Schädigung
  • vollständige Schädigung,

der jeweils eine konkrete Intensitätsbeschreibung hinterlegt ist (z. B. erhebliche Schädigung heißt, dass ein Problem mehr als 50 v. H. der Zeit mit einer Intensität vorliegt, die die tägliche Lebensführung der Person teilweise unterbricht und die in den letzten 30 Tagen häufiger auftrat).

Markup-Template

%%%CONTENT%%%