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Beitrag zur rechtlichen Einordnung der Erwerbsfähigkeit im Kontext des Erwerbsminderungs- und des Reha- und Teilhaberechts

23. September 2022

Beitrag zur rechtlichen Einordnung des Begriffs der Erwerbsfähigkeit

Ist die vollständige und dauerhafte Erwerbsminderung Voraussetzung, damit Menschen mit Behinderungen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach SGB IX in Anspruch nehmen können? Darüber sind sich Wissenschaft und Praxis nicht einig. In einem zweiteiligen Beitrag setzt sich Dr. Hans-Joachim Sellnick, Richter am Sozialgericht Nordhausen, mit dem Begriff der Erwerbsfähigkeit im Kontext des Erwerbsminderungs- und des Reha- und Teilhaberechts auseinander.

Eines der zentralen Abgrenzungskriterien für die Zuständigkeit der verschiedenen Sozialleistungssysteme stellt der Begriff der Erwerbsfähigkeit dar. Das Kriterium der Erwerbsfähigkeit steuert nicht nur den Zugang zu verschiedenen existenzsichernden Leistungen, z. B. Krankengeld oder Arbeitslosengeld versus Erwerbsminderungsrente und Sozialhilfe, sondern auch zu Teilhabeleistungen. Liegt eine volle Erwerbsminderung vor, muss Erwerbsfähigkeit wesentlich gebessert oder wieder hergestellt werden.

Teil I: Erwerbsfähigkeit aus Sicht der Rentenversicherung und der Arbeitsvermittlung

Im ersten Teil des Berichts analysiert Dr. Sellnick das Spannungsverhältnis zwischen festgestellter Erwerbsfähigkeit aus Perspektive des Rechts der Erwerbsminderung und fehlender tatsächlicher (gesundheitsbedingter) Integrationschancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Im Rentenrecht werde Erwerbsfähigkeit zunächst negativ definiert: Voll erwerbsgemindert ist gemäß § 43 SGB VI, wer weniger als 3 Stunden täglich unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein kann. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Allerdings zeigt sich, dass das Verständis von Erwerbsfähigkeit sehr unterschiedlich definiert ist. Dies liege u. a. daran, dass die einschlägige Leitlinie der Rentenversicherung zwar vielfältige Standards für die Erhebung der Befunde und der Anamnese sowie Kriterien der Konsistenzprüfung vorgibt. Jedoch biete sie hinsichtlich der Frage, wann eine Erwerbsminderung vorliegt, im Grunde keine inhaltlichen Kriterien. Zudem sei die Einschätzung von relevanten Faktoren zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nicht eindeutig.

Beim Verständis von Erwerbsfähigkeit herrscht laut Dr. Sellnick ein Spannungsfeld zwischen Rentenversicherung und Bundesagentur für Arbeit (BA) bzw. Jobcenter vor. Diese müssen bei der Prüfung der Erwerbsfähigkeit die tatsächlichen Integrationmöglichkeiten bewerten, weshalb sie die allgemeine Arbeitsmarktlage nicht ausblenden können. Laut Statistik der BA seien zwischen 129.000 und 239.000 Personen eigentlich erwerbsunfähig bzw. auf Grund ihres Gesundheitszustandes dauerhaft nicht mehr realistisch vermittelbar. Diese Personen werden von den Jobcentern angehalten einen Antrag auf Erwerbsminderung zu stellen. Dieser werde jedoch von der DRV abgelehnt. In der Folge fallen die Betroffenen nach einem langwierigen Verfahren mit dem Ergebnis der endgültigen Ablehnung wieder in die Zuständigkeit der BA bzw. der Jobcenter.

Teil II: Bewegungen im System

Im zweiten Teil seines Berichts beschäftigt sich Dr. Sellnick mit Abgrenzungsproblemen zwischen Leistungen nach §§ 16 ff. SGB II und § 61 SGB IX.

Das unterschiedliche Verständis von Erwebsfähigkeit spiegele sich auch in den Förderinstrumenten der jeweiligen Leistungssysteme wider. Gem. §§ 16 ff. SGB II sind Instrumente zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit entwickelt worden, die auch die Auswirkungen von Langzeiterkrankungen jedenfalls z.T. kompensieren sollten. Ähnlich wie beim Budget für Arbeit gem. § 61 SGB IX  sind Arbeitgeberzuschüsse vorgesehen. Der Unterschied bei den Leistungen nach §§ 16 ff. SGB II sei, dass sie für die nicht nur geringfügige Beschäftigung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die seit mindestens zwei Jahren arbeitslos sind, vorgesehen sind. Somit hat man, laut Autor, damit Instrumente im SGB II geschaffen, die mit Blick auf gesundheitliche Beeinträchtigungen in Konkurrenz zur beruflichen Rehabilitation stehen.

Die Überschneidung zum Budget für Arbeit zeige sich vor allem darin, dass in der Literatur argumentiert werde, dass das Budget für Arbeit grundsätzlich auch für die aus Arbeitsförderungssicht nicht mehr auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelbaren, aber gleichwohl rentenrechtlich noch zumindest beschränkt Erwerbsfähigen zur Verfügung steht. 

Es zeige sich somit, dass der SGB-II-Leistungsempfänger, der nur mit massiver Förderung des § 16i SGB II in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, sei es im gemeinnützigen Bereich eines sozialen Arbeitsmarktes, sei es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, integriert werden kann, als erwerbsfähig gelte. Nicht als erwerbsfähig gelte der Werkstattbeschäftigte, der mit einer ähnlichen Förderung in ein entsprechendes ähnliches sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis integriert werde. Bei diesen beiden ähnlichen Leistungen müsse zudem bedacht werden, dass unterschiedliche Freibetragsgrenzen für das Einkommen und Vermögen vorherrschen. 

Der Autor fordert daher u. a. den Zugang zur Erwerbsminderungsrente zu erleichtern. Zudem müssten Systemgrenzen beim SGB II und SGB IX neu justiert werden und auch durchlässiger gestaltet werden.

Die beiden Teile des Berichts finden Sie hier:

 

1. Teil: Erwerbsfähigkeit aus Sicht der Rentenversicherung und der Arbeitsvermittlung

2.Teil: Bewegung bei der Abgrenzung der Leistungssysteme zur Teilhabe am Arbeitsleben

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