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Online-Fachdikussion Vom Bedarf zur Leistung: Personenzentrierung in der Eingliederungshilfe

1. April bis 30. Juni 2021

Vom Bedarf zur Leistung: Personenzentrierung in der Eingliederungshilfe

Durch das BTHG wurde die Eingliederungshilfe von einer überwiegend einrichtungszentrierten zu einer personenzentrierten Leistung neu ausgerichtet. Ziel ist es dabei, gem. § 90 Abs. 1 SGB IX dem Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Wie der Aspekt der personenzentrierten Leistung von den Akteuren umgesetzt wird, war Gegenstand dieser Online-Fachdiskussion.

Personenzentrierung als Kern des BTHG

Mit der dritten Reformstufe des BTHG wurden die Leistungen der Eingliederungshilfe zum 1. Januar 2020 aus dem System der Sozialhilfe herausgelöst und zu einem modernen, personenzentrierten Teilhaberecht reformiert. Damit wurde ein Paradigmenwechsel in der Eingliederungshilfe vollzogen. Leistungen für Menschen mit Behinderungen werden nicht länger einrichtungszentriert, sondern personenzentriert bereitgestellt.

An die Stelle der Fürsorge tritt nun das Prinzip der Selbstbestimmung. Im Zentrum der Leistungsgestaltung steht der Mensch mit Behinderungen mit seinen Vorstellungen zu seinen Wünschen und persönlichen Zielen. Die Schritte vom Bedarf zur Leistung können nicht ohne die leistungsberechtigte Person gegangen werden; die Leistungserbringung hat konsequent personenzentriert zu erfolgen.

Personenzentrierung im Reha-Prozess

Der Grundgedanke der Personenzentrierung hat durch das BTHG Eingang in jeden Schritt des Reha-Prozesses gefunden:

Bedarfserkennung und Beratung

Aufgabe des Reha-Trägers ist es, einen Rehabilitationsbedarf durch Bereitstellung und Vermittlung von geeigneten barrierefreien Informationsangeboten frühzeitig zu erkennen und auf eine Antragstellung von Leistungsberechtigten hinzuwirken (§ 12 SGB IX). Zudem muss der Eingliederungshilfe-Träger gemäß § 106 SGB IX im gesamten Reha-Prozess der leistungsberechtigten Person umfassend beratend und unterstützend zur Seite stehen. Die Unterstützung beginnt gemäß § 106 Abs. 3 SGB IX bereits bei der Antragstellung und setzt sich fort bei der Hilfe zur Inanspruchnahme von Leistungen. Dabei hat der Eingliederungshilfe-Träger den Leistungsberechtigten bei der Kontaktaufnahme zu Leistungserbringern sowie bei der Aushandlung und dem Abschluss von Verträgen engmaschig zu unterstützen.

Bedarfsermittlung

Die Ermittlung des individuellen Bedarfs des Leistungsberechtigten geht von den Wünschen und Zielen des Menschen mit Behinderungen aus. Auf der Grundlage der Ziele des Leistungsberechtigten ist die individuelle Situation strukturiert zu erfassen. Hierzu haben die Bundesländer jeweils ICF-orientierte Bedarfsermittlungsinstrumente entwickelt oder bestehende Instrumente an die Regelungen des BTHG angepasst. Mit den Instrumenten besteht die Möglichkeit der Erfassung verschiedener Lebensbereiche. Die ICF-Orientierung ermöglicht zudem die Erfassung individueller Wechselwirkungen anhand des bio-psycho-sozialen Modells. Auf Grundlage des Instruments formuliert die leistungsberechtigte Person dann mit Hilfe der Fachkraft personenzentrierte Leitziele. Diese können mehrere Lebensbereiche betreffen und machen somit die grundsätzliche Ausrichtung der Gesamtplanung erkennbar.

Gesamt- bzw. Teilhabeplanverfahren

Bei der Entscheidung und Abstimmung der notwendigen Leistungen muss der Reha-Träger die leistungsberechtigte Person von Beginn an am gesamten Verfahren beteiligen. Zur Unterstützung und Hilfe zur besseren Verständigung und Kommunikation steht es dem Leistungsberechtigten zudem gemäß § 117 Abs.2 SGB IX zu, für das Gesamtplanverfahren eine Person seines Vertrauens hinzuziehen. Im Rahmen des Gesamtplanverfahrens hat sich der Eingliederungshilfe-Träger stets an den Wünschen des Leistungsberechtigten zu Zielen und Art der Leistungen zu orientieren. Zur Ermittlung der Leistungen kann der Träger der Eingliederungshilfe unter Zustimmung des Leistungsberechtigten eine Gesamtplankonferenz einberufen (§ 119 SGB IX). Somit bedarf die Erstellung des Gesamtplans einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Eingliederungshilfe-Träger, der leistungsberechtigten Person sowie möglicher weiterer Leistungsträger.

Leistungserbringung

Auf der Grundlage des Leistungsbescheids sollen die Leistungen personenzentriert und individuell angeboten bzw. erbracht werden. Hierzu sind seitens der Leistungserbringer gemäß § 123 Abs. 4 S. 1 SGB IX die entsprechenden Angebote personenzentriert zu gestalten bzw. unter Beachtung der Inhalte des Gesamtplans zu erbringen. Für die Sicherstellung personenzentrierter Leistungen gemäß § 95 SGB IX bedurfte es neuer Vertragsgrundlagen zwischen Eingliederungshilfe-Trägern und den Leistungserbringern. Auf Grundlage der neuen Landesrahmenverträge wurden neue schriftliche Vereinbarungen mit den Leistungserbringern geschlossen. Da durch das BTHG auch eine Reihe neuer personenzentrierter Leistungen wie bspw. das Budget für Arbeit (§ 61 SGB IX) hinzugekommen sind, stehen dem Reha-Träger nun auch neue Vertragspartner gegenüber.

Eine stetige Prüfung des Gesamtplans stellt zudem sicher, dass die Erbringung der Leistungen sich stets an den Bedarfen der leistungsberechtigten Person orientieren.

Personenzentrierung als Herausforderung für alle Akteure

Leistungsberechtigte

Für leistungsberechtigte Personen kann die personenzentrierte Ausrichtung ein Gewinn sein. Durch mehr Selbstbestimmung gehen auch mehr Mitwirkung, mehr Aktivitäten, aber auch mehr Pflichten einher. Im Rahmen des Bedarfsermittlungsverfahrens liegt es an der leistungsberechtigten Person ihre Wünsche und Ziele einzubringen. Der Mensch mit Behinderungen muss aber auch von Beginn an am Verfahren beteiligt werden und kann somit gewährleisten, dass sich seine Vorstellungen auch in der Erbringung der Leistungen widerspiegeln.

Leistungsträger

Der Leistungsträger muss eine personenzentrierte Leistungsgestaltung garantieren. Hierzu muss die leistungsberechtigte Person von der Antragstellung bis zur Leistungserbringung aktiv einbezogen werden. Ein enger Austausch zwischen Leistungsträger und Leistungsberechtigten ist daher essentiell. Um der Rolle als unterstützender Leistungsträger gerecht zu werden, mussten in den Verwaltung Strukturen angepasst werden. Hier bedarf es u. a. Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen des Personals.  Da gleichzeitig in der Eingliederungshilfe keine neue Ausgabendynamik entstehen soll, stehen Leistungsträger, aber auch Leistungserbringer vor der Herausforderung, den Strukturwandel sowohl personenzentriert als auch qualitätsvoll und effizient zu gestalten.

Leistungserbringer

Die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in ein modernes Teilhaberecht bedeutet auch für Leistungserbringer eine große Rollenänderung. Alte Konzepte, die auf Fürsorge und Komplexleistungen ausgelegt waren, müssen nun im Sinne der Personenzentrierung überarbeitet werden. Die Stärkung der Selbstbestimmung des Leistungsberechtigten bewirkt zudem, dass Leistungserbringer, die ihre Konzepte innovativ und attraktiv auszugestalten, Wettbewerbsvorteile erzielen können, da sie von den leistungsberechtigten Personen stärker nachgefragt werden.

Schwerpunkte der Diskussion

  • Personenzentrierung und Bremsen der Kostendynamik – widerspricht sich das oder ist Personenzentrierung letztlich die Steuerungsmöglichkeit, um zielgerichteter und damit kosteneffizienter zu arbeiten?
  • Personenzentrierung bei Menschen mit psychischen/geistigen Behinderungen und Schwer- und Mehrfachbehinderungen – wie gehen sie mit den Möglichkeiten und Pflichten um bzw. gibt es Grenzen der Personenzentrierung für Menschen mit psychischen/geistigen Behinderungen?
  • Wie bewerten Sie die Möglichkeiten der Erstellung neuer und innovativer Leistungen auf der Grundlage der gesetzlichen Ausgestaltung der jeweiligen Landesrahmenverträge?
  • Welche Erfahrungen machen Sie im Rahmen des Gesamt- bzw. Teilhabeplanverfahren? Inwiefern orientierten sich die Beteiligten an den Wünschen des Leistungsberechtigten zu Zielen und Art der Leistungen?
  • Wie verlaufen die Anpassungen an das moderne, personenzentrierte Teilhaberecht in den Behörden und bei den Leistungserbringern? Vor welchen Herausforderungen stehen Sie in ihrem praktischen Alltag?

BTHG-Kompass

Antworten auf Ihre Beiträge

Ihre Beiträge zu den Fachdiskussionen haben wir unter anderem mit der Hilfe von Expertinnen und Experten beantwortet. Sie finden die von uns beantworteten Beiträge in unserem BTHG-Kompass unter folgendem Link.

Experte

Dr. Michael Konrad, Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg

© Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg

Dr. Michael Konrad

Dr. Michael Konrad, Diplom-Psychologe, ist nach jahrzehntelanger leitender Tätigkeit in allen Bereichen des Betreuten Wohnens seit 2017 Referent für die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes im Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg. Außerdem ist er Autor des Fachbuches "Die Assistenzleistung - Anforderungen an die Eingliederungshilfe durch das BTHG".

Expertin

Porträtfoto von Sandra Waters

© Sandra Waters

Sandra Waters

Sandra Waters ist Referentin der Geschäftsführung in Bethel.regional, einem Stiftungsbereich der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Sie leitet das interne BTHG Projekt in Bethel.regional und ist darüber hinaus Koordinatorin für alle übergreifenden Aktivitäten zum BTHG in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.

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