Ein Teil der mit der Entscheidung angesprochenen Rechtsprobleme wird auch im Zuge der Umsetzung des BTHG Bedeutung erlangen. Mit der Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen ab dem Jahr 2020 sind die Träger der Grundsicherung damit konfrontiert, für jeden in einer WfbM tätigen Menschen, sofern er seinen Lebensunterhalt nicht anders bestreiten kann, zu entscheiden, nach welchen Normen ihm Grundsicherung zu gewähren ist.
Die Entscheidung ist vor allem deshalb interessant, weil sich das Gericht sehr ausführlich mit dem Sinn und der Reichweite rechtlicher Privilegierungen von Menschen mit Behinderung, der Rechtsbindung der Verwaltung aus Art. 20 Abs. 3 GG sowie dem Konnexitätsprinzip des Art. 104 a GG auseinandersetzt.
Was wurde verhandelt?
Die Klägerin hat einen Grad der Behinderung von 100 mit den Merkzeichen „G“, „B“, „H“ und „aG“ und war zunächst in Pflegestufe II und ist inzwischen in Pflegegrad 4 eingestuft. Sie lebt bei ihren Eltern und besucht seit dem 1. September 2017 den Eingangs-bzw. Berufsbildungsbereich einer WfbM. Im Kern geht es um die Frage, ob Menschen im Eingangs-bzw. Berufsbildungsbereich einer WfbM nach dem Willen des Gesetzgebers Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII oder aber Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II erhalten sollen.
Die Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII werden unabhängig von der Einkommenssituation der Eltern erbracht. Es geht also darum, ob
a) der Gesetzgeber diese Menschen anderen jungen Menschen gleichstellen will, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst sichern können und noch bei ihren Eltern wohnen oder
b) ob sie für wie voll erwerbsgeminderte Menschen mit Behinderung zu behandeln sind, bis die medizinischen Voraussetzungen dafür geprüft wurden, und das Einkommen ihrer Eltern bei der Berechnung ihrer existenzsichernden Leistungen unberücksichtigt bleiben soll.
Mit der Rechtsänderung zum 1. Juli 2017 hat der Gesetzgeber mit der Änderung des § 45 Nr. 3 SGB XII die Prüfung, ob ein Mensch im Eingangs- bzw. Berufsbildungsbereich einer WfbM kraft Gesetzes als voll erwerbsgemindert gilt, abgeschafft. Bei der Tätigkeit dort soll es sich dem Grundsatz nach um einen ergebnisoffenen Prozess handeln, an dessen Ende der Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt ebenso stehen kann, wie der Übergang in den Arbeitsbereich der WfbM.
Die Frage, ob Betroffene auch ohne eine Feststellung des Rentenversicherers und ohne entsprechende Stellungnahme des Fachausschusses der WfbM als dauerhaft voll erwerbsgemindert gelten und damit leistungsberechtigt im Sinne des Vierten Kapitels des SGB XII sein sollen, haben die Grundsicherungsträger bislang unterschiedlich beantwortet.
Die wichtigsten Punkte des Urteils
Das Gericht setzte sich zunächst mit dem Wortlaut des § 45 Nr. 3 SGB XII (n.F.) auseinander und stellt fest, dass dieser beide Deutungen zulässt. Allerdings spricht die systematische Auslegung der Regelung eher dafür, dass auch Personen der Fallgruppe 3 als dauerhaft voll erwerbsgemindert gelten sollen. Andernfalls hätte der Gesetzgeber die Unterscheidung deutlicher gemacht.
Mit der Rechtsänderung zum 1. Juli 2017 sollte nach Ansicht des Gerichts lediglich eine Verfahrensregel geändert werden. Die Absicht, den leistungsberechtigten Personenkreis für Grundsicherungsleistung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII zu erweitern oder (faktisch) einzuschränken, hätte der Gesetzgeber deutlicher kundgetan. Geht man davon aus, dass allein der gesetzliche Verzicht auf eine Stellungnahme des Fachausschusses im Gesetzestext dazu führt, dass Beschäftigte im Eingangs-und Berufsbildungsbereich einer WfbM als „erwerbsfähig“ mit den oben skizzierten Folgen gelten, haben sie keine Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren prüfen zu lassen, wie es tatsächlich um ihre Erwerbsfähigkeit bzw. dauerhafte volle Erwerbsminderung bestellt ist.
Eine Prüfung der medizinischen Voraussetzungen der Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. SGB VI ist nicht vorgesehen. Die Verwaltung müsste somit auch berechtigte Ansprüche auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung ablehnen. Betroffene müssten dann erst gerichtlich prüfen lassen, ob sie einen Anspruch auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung haben. Hier sieht das Gericht nicht nur die Rechtsbindung der Verwaltung aus Art. 20 Abs. 3 GG berührt, sondern auch einen Verstoß gegen den Konnexitätsgrundsatz aus Art. 104 a Abs. 1 GG. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wird in Bundesauftragsverwaltung ausgeführt (Art. 104a Abs. 2 und 3 GG i.V.m. § 46a Abs. 1 SGB XII, Art. 81 Abs. 2 AGSG). Auch die Sachverhaltsermittlung ist daher, soweit sie sich auf die Gewährung von Grundsicherung bezieht, auf Kosten des Bundes durchzuführen. Entgegen dieser klaren Regelung, würden den Sozialgerichten und damit den Bundesländern die Kosten für die Erstermittlung des Sachverhalts entstehen, falls der Leistungsberechtigte im Klageverfahren gegen eine ablehnende Behördenentscheidung vorginge.
Die Entscheidung des Sozialgerichts Augsburgs ist noch nicht rechtskräftig. Es bleibt abzuwarten, inwiefern diese Frage rechtlich zweifelsfrei geklärt ist – sei es durch eine Rechtssänderung oder durch eine Verfestigung dieser Rechtsprechung – bevor mit dem Jahr 2020 auch Bewohner „besonderer Wohnformen“ (bis dahin „stationäre Einrichtungen“) Leistungen der Grundsicherung neben Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten.
Das Urteil können Sie auf den Seiten der Bayerischen Senatskanzlei nachlesen: