Im Jahr 2018 startete die modellhafte Einführung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) nach § 32 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Mit ihr wurden bundesweit rund 500 Angebote gefördert, in denen Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen über Fragen der Rehabilitation und Teilhabe informiert und beraten werden. Seit 2023 ist sie durch die Verordnung zur Weiterführung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (Teilhabeberatungsverordnung -EUTBV) in den Regelbetrieb übergegangen.
Kernaufgabe der EUTB ist es, Ratsuchenden Orientierungs-, Planungs- und Entscheidungshilfen zu geben, um sich im komplexen Institutionen- und Leistungssystem der Rehabilitation und Teilhabe besser zurechtzufinden. Die Beratung soll dabei auch die Eigenverantwortung, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen stärken.
Wissenschaftliche Begleitung im Rahmen der Modellphase
In dem vom BMAS in Auftrag gegebenen Forschungsprojekt untersuchten die Prognos AG, infas GmbH sowie die Humboldt-Universität Berlin die Umsetzungs- und Wirkungsbedingungen der EUTB. Zur Evaluation wurden konkret Fragen zur Implementation, zur Qualität, zu den Ergebnissen und Wirkungen für die Ratsuchenden sowie den Auswirkungen auf die Beratungslandschaft und das Leistungssystem des SGB IX untersucht.
Für die Beantwortung der Forschungsfragen wurden standardisierte Befragungen von EUTB-Angeboten sowie nicht-EUTB-geförderten Beratungseinrichtungen und ihren jeweiligen Ratsuchenden herangezogen. Ebenfalls waren eine regelmäßige Auswertung der Beratungsdokumentation, Dokumentenanalysen, Workshops, Fokusgruppengespräche und Interviews mit Ratsuchenden und Koordinatorinnen und Koordinatoren bzw. Beraterinnen und Beratern der EUTB sowie Beobachtungen von Beratungsgesprächen Bestandteil der Untersuchung.
Zentrale Ergebnisse der Evaluation
Die Ergebnisse der Evaluation zeigen, dass von den zwischen Januar 2018 und September 2022 rund 700.000 dokumentierten Beratungskontakten zwei Drittel auf ratsuchende Menschen mit (drohenden) Behinderungen und knapp ein weiteres Drittel auf Angehörige entfallen. Es zeigt sich zudem, dass die telefonische Beratung mit einem Anteil von 45 Prozent als häufigste Beratungsform der EUTB genutzt wird. Persönliche Gespräche machten 42 Prozent aller Beratungskontakte aus.
Die weitgehend neuen Beratungsformen mittels Videotelefonie und -konferenzen (sowie die Beratung unter freiem Himmel) nahmen pandemiebedingt im Untersuchungszeitraum deutlich zu. Persönliche und aufsuchende Beratung wurden reduziert und die Strukturen telefonischer und bisheriger Online-Beratung (E-Mail, Webportal, Chat) beibehalten.
Die Peer-Beratung macht einen erheblichen Teil des Beratungsgeschehens der EUTB aus: Bis September 2022 lassen sich nahezu drei viertel aller 700.000 dokumentierten Beratungskontakte als Peer-Beratungen einstufen.
Wer sucht Rat bei den EUTBs?
Bei den Ratsuchenden mit (drohenden) Behinderungen dominieren Beeinträchtigungen beim Bewegen – genauso bei der Angehörigenberatung. Ratsuchende Angehörige wenden sich zudem überproportional häufig an die EUTB wegen einer nahestehenden Person mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Beeinträchtigungen oder auch im Bereich von Autismus.
Die Studienergebnisse zeigen, dass WfbM-Beschäftigte, Menschen in besonderen Wohnformen, Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sowie Jugendliche und junge Erwachsene mit Beeinträchtigungen trotz aufsuchender Beratung (noch) zu wenig erreicht werden, obwohl bei diesen allgemein ein hoher Bedarf an Beratung vermutet wird.
Wirksamkeit der Beratung
Mit Blick auf die unmittelbaren Beratungsergebnisse (Outputs) bestätigt die standardisierte Befragung eine hohe Beratungszufriedenheit der Ratsuchenden. Mit Blick auf die mittelbaren Ergebnisse der Beratung (Outcomes) bescheinigen die Ratsuchenden der EUTB, einen substanziellen Beitrag zur Realisierung ihrer persönlichen Beratungsziele geleistet zu haben. Auch wenn diese gemessenen Effekte insgesamt nicht sehr groß ausfallen, kommen die Forschenden zu dem Schluss, dass die Evidenz darauf schließen lässt, dass Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten von Ratsuchenden mit (drohenden) Behinderungen durch die Beratung der EUTB gesteigert werden können.
Zentrale Handlungsfelder für die Weiterentwicklung der EUTB
Aus der Auswertung der Forschungsergebnisse wurden Handlungsfelder abgeleitet, die aus Sicht der Auftragnehmer für die Weiterentwicklung des Beratungsangebots der EUTB zukünftig von Bedeutung sein werden. Zu den identifizierten Handlungsfeldern gehören:
- die weitere Intensivierung der Vernetzung zwischen den EUTB-Angeboten, um Nachteile kleiner Organisationseinheiten zu kompensieren,
- die Schärfung der fallbegleitenden und rechtlichen Beratungsaufgaben der EUTB, um Ressourcen passgenauer planen zu können und die Beratungspraxis entsprechend wohldefiniert gestalten zu können,
- damit zusammenhängend eine Präzisierung des konzeptionellen Profils der EUTB im Spannungsfeld zwischen leistungsbezogener Vorfeldberatung im Kontext des SGB IX und den vielfältigen Anforderungen lebensweltlicher Beratung auch um Qualifikations- und Qualifizierungsprofile der Beraterinnen und Berater zu klären,
- die Weiterentwicklung des barrierefreien Schulungsangebotes der Beraterinnen und Berater (Inhalte und Formate), insbesondere deren Ergänzung um bisher noch wenig abgedeckte Kompetenzbereiche,
- die Entwicklung von Strategien zur Erreichung bisher unterrepräsentierter Teilgruppen potenziell Ratsuchender, insbesondere von Menschen mit kognitiven Einschränkungen und mit einem Bedarf an kommunikativer Unterstützung,
- die Vertiefung (Qualifizierung) und Ausweitung der Peer-Beratung, auch hinsichtlich der Abdeckung und stärkeren Korrespondenz mit bisher schwer erreichbaren Gruppen von Menschen mit Behinderungen sowie
- ein effektiver Ausbau der Vernetzung von EUTB-Angeboten im institutionellen Umfeld, insbesondere mit Leistungsträgern.
Den Forschungsbericht zur Evaluation der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung finden Sie online unter: