Herr Dusel, wo liegen aus Ihrer Sicht die großen Herausforderungen der Politik für Menschen mit Behinderungen in der aktuellen Legislaturperiode?
Was mir sehr wichtig ist, ist die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Ich möchte, dass mehr Menschen mit Behinderungen selbst für einen Landtag oder den Bundestag kandidieren oder auch ein anderes Spitzenamt anstreben. Sie sind Experten nicht nur in eigener Sache, sondern bringen selbstverständlich auch Expertise in vielen Bereichen mit. Das ist für viele derzeit aber nicht möglich oder sehr schwierig. Denken wir nur an Gehörlose, die auf Dolmetschung angewiesen sind. Ein weiteres wichtiges Thema ist auch die stärkere Verpflichtung privater Anbieter, deren Produkte und Dienstleistungen für die Allgemeinheit bestimmt sind, zur Barrierefreiheit. Denn zur Allgemeinheit gehören natürlich auch Menschen mit Behinderungen. Ich berufe mich da auf das Grundgesetz: „Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Es ist einfach schwer nachzuvollziehen, dass es bei unserem digitalen Fortschritt zum Beispiel immer noch Webseiten gibt, die nicht barrierefrei sind. Dasselbe gilt für Arztpraxen, die für Menschen mit Behinderungen nicht zugänglich sind, oder Kinosäle. Und damit meine ich nicht nur die Rampe an der Treppe.
In Bezug auf Barrierefreiheit wird sicher der Wohnungsbau ein drängendes Thema sein. Die Frage des bezahlbaren Wohnraums stellt sich ja bereits an vielen Stellen, aber meiner Meinung nach sollte das Thema viel grundsätzlicher angegangen werden. Denn nur barrierefreier Wohnungsbau ist echter sozialer Wohnungsbau.
Insgesamt ist mein Ziel, ein viel stärkeres Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Menschen mit Behinderungen so wie jeder und jeder andere teilhaben wollen. Sie haben ein Recht darauf, nicht nur mit dem nötigsten versorgt zu werden, sondern zu leben, zu lieben und sich einzubringen, wann und wo sie wollen.
Demokratie braucht Inklusion – ausgehend von Ihrem Motto: Welche konkreten Chancen ergeben sich aus Ihrer Sicht durch eine inklusive Gesellschaft?
Um es vorweg zu nehmen: Wir sprechen bei Inklusion und gleichberechtigten Teilhabechancen von grundlegenden Menschenrechten. Es geht hier nicht um das ob, sondern um das wie. Eine offene, bunte und inklusive Gesellschaft führt für jeden und jede Einzelne zu mehr Teilhabe an einem lebenswerten, inspirierenden und sinngebenden gesellschaftlichen Miteinander. Darüber hinaus schafft sie auch einen Standortvorteil im internationalen Wettbewerb. Wenn wir es zum Beispiel schaffen, wirklich alle Potentiale zu fördern und zu nutzen, ist das gerade in Zeiten des Fachkräftemangels von großem Wert. Das Schlüsselwort ist Anpassungsfähigkeit: Je flexibler und inklusiver eine Gesellschaft ist, desto erfolgreicher wird sie mit den Entwicklungen umgehen können, die wir ja bereits sehen.
An der Umsetzung des BTHG wird auf allen Ebenen intensiv gearbeitet. Was ist bisher gut gelungen? Welche Herausforderungen stehen aus Ihrer Sicht noch an?
Zufrieden bin ich durchaus mit der Anhebung der Grenze bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn diese Grenzen noch weiter erhöht würde oder die Anrechnung ganz entfällt. Wir haben in diesem Bereich quasi erst den Einstieg in den Ausstieg. Positiv finde ich auch die Verdoppelung des Arbeitsförderungsgeldes in Werkstätten. Eine Erleichterung ist auch das neue trägerübergreifende Teilhabeplanverfahren. Die Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger ist straffer geregelt, so dass Leistungen „wie aus einer Hand“ möglich werden. Für Menschen mit Behinderungen bedeutet das, dass sie seit diesem Jahr nur noch einen Reha-Antrag stellen müssen, um alle erforderlichen Leistungen von den verschiedenen Rehabilitationsträgern zu erhalten. Zudem werden mit Zustimmung der betroffenen Leistungsberechtigten Fallkonferenzen durchgeführt, auf denen der individuelle Unterstützungsbedarf beraten wird. Das stärkt die Partizipation der Betroffenen deutlich.
Eine besondere Herzensangelegenheit ist mir jedoch, die Gruppe der Menschen mit besonders hohem Assistenzbedarf nicht zu vergessen. Diese Menschen sollen im gleichen Maße vom neuen Bundesteilhabegesetz profitieren können. Es darf zu keinen Leistungseinschränkungen kommen. Inzwischen liegt der Abschlussbericht zu den rechtlichen Wirkungen der Regelungen des § 99 SGB IX in Bezug auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe vor. Aus diesem Bericht ergibt sich, dass sich der leistungsberechtigte Personenkreis durch das neue Verfahren verändern würde. Damit würde das Kriterium, dass der leistungsberechtigte Personenkreis konstant bleiben soll, nicht erfüllt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat angekündigt, in einem partizipativen Beteiligungsprozess auch mit den Verbänden von Menschen mit Behinderungen die künftigen Kriterien für den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe zu entwickeln. Diesen Prozess werde ich selbstverständlich eng begleiten.
Entscheidend ist auch, dass die Neuregelungen des BTHG auch wirklich in der Praxis bundesweit bei den Menschen mit Behinderungen ankommen. Es darf keine Umsetzungsprobleme geben, wie wir sie in der Vergangenheit im Rahmen des SGB IX teilweise schon erlebt haben.
Herr Dusel, wir danken Ihnen sehr für das Gespräch!
Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen
Jürgen Dusel
Seit Mai 2018 ist Jürgen Dusel Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Im Interview mit dem Projekt Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz spricht Herr Dusel u.a. zu den Herausforderungen seiner Amtszeit.