Zuständigkeit bei geistig- oder körperlicher Behinderung eines Kindes
Wie ist die Zuständigkeit SGB IX/SGB VIII geregelt, wenn ein geistig oder körperlich behindertes Kind aufgrund erzieherischer/pädagogischer Bedarfe in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht wird?
Zuständigkeit bei geistig- oder körperlicher Behinderung eines Kindes
Die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher oder geistiger Behinderung wegen erzieherischer/pädagogischer Bedarfe in Form der Hilfe zur Erziehung durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe scheidet auf Grund des Nachrangs des SGB VIII nach § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII aus. Dies gilt jedoch nur, wenn die Hilfe tatsächlich realisierbar ist, ansonsten muss der Träger der öffentlichen Jugendhilfe als Ausfallbürge eingreifen und sich über die Kostenerstattung schadlos halten (Kepert in LPK-SGB VIII, § 10 Rn. 7; Schönecker/Meysen in FK-SGB VIII, § 10 Rn. 2; DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2018, 333; so auch BVerwG 18.10.2012 - 5 C 21/11 zum Vorrang der Schule). Zum Vorrang der Eingliederungshilfe für junge Menschen nach dem SGB IX grundlegend:
I. Anwendungsvoraussetzungen des § 10 SGB VIII
Für die Abgrenzung der Leistungen des SGB VIII zu Leistungen anderer Teile des Sozialgesetzbuchs enthält § 10 SGB VIII die Kollisionsregeln. Zum Eingreifen des § 10 SGB VIII muss bei beiden infrage stehenden Leistungen ein Leistungsanspruch bestehen (d.h. die Leistungsvoraussetzungen aus unterschiedlichen Teilen des SGB müssen erfüllt sein) und es muss zwischen den Leistungsformen Kongruenz bestehen (vgl grundlegend: BVerwG 23.09.1999 – 5 C 26/98). Leistungskongruenz ist nach einer vielzitierten Formel des BVerwG (welche auch die sozialgerichtliche Rechtsprechung übernommen hat) anzunehmen, wenn beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (vgl beispielhaft: BVerwG 19.10.2011 − 5 C 6/11). Dafür stellt das Gesetz nicht auf einen Schwerpunkt in Bezug auf eine der beiden Hilfeleistungen ab, sondern allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen (BVerwG 23.09.1999 - 5 C 26/98). Bei der vorliegenden Anfrage ist davon auszugehen, dass sowohl ein Leistungsanspruch auf Hilfe zur Erziehung nach dem SGB VIII als auch auf Eingliederungshilfe nach dem SGB IX besteht. Die Leistungsberechtigung spielt für diese Prüfung keine Rolle, es kommt allein darauf an, dass der Leistungsempfänger dieselbe Person ist (BVerwG 19.10.2011 – 5 C 6/11). Bei beiden Leistungsformen ist der Leistungsempfänger identisch. Insofern bedarf es im konkreten Fall eines abstrakten Vergleichs der beiden Leistungsformen. Dies ist eine Frage des Einzelfalls, wobei hier von Leistungskongruenz ausgegangen wird (vgl. BVerwG 23.09.1999 - 5 C 26/98; 09.02.2012 - 5 C 3.11). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, löst § 10 SGB VIII die Konkurrenz auf.
II. Auflösung der Konkurrenz
Die Leistungen nach dem SGB VIII gehen im Grundsatz den Leistungen nach dem SGB IX und XII vor (§ 10 Abs. 4 S. 1 SGB VIII). Abweichend davon gehen Leistungen der Eingliederungshilfe (Teil 2 SGB IX) für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach SGB VIII vor (§ 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII). Junge Menschen in diesem Sinne sind Personen die noch nicht 27 Jahre alt sind (§ 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII). Der klare Wortlaut macht deutlich, dass sich § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII auf sämtliche Leistungen des SGB VIII iSd § 2 Abs. 2 SGB VIII bezieht (DIJuF-Rechtsgutachten JAmt 2020, 154, 155). Insofern wäre die stationäre Unterbringung über Teil 2 SGB IX vorrangig.
Nach Auffassung des Verfassers liegt der Anfrage der Sachverhalt zu Grunde, dass ein Kind oder Jugendlicher mit körperlicher oder geistiger Behinderung im Rahmen der Eingliederungshilfe nach Teil 2 SGB IX in einer Jugendhilfeeinrichtung stationär untergebracht wird. In dieser Situation wäre der Träger der Eingliederungshilfe grundsätzlich für Leistungsgewährung zuständig, gleichfalls für etwaige Zusatzleistungen (z.B. besondere Therapieformen). Allerdings kann auch eine Doppelzuständigkeit infrage kommen, wenn z.B. die Personensorgeberechtigten Hilfe zur Erziehung in Form der Erziehungsberatung (§§ 27, 28 SGB VIII) zusätzlich in Anspruch nehmen.
Durch eine Konkretisierung der Anfrage könnte eine weitergehende Befassung erfolgen.