Input zu den Regelungen des BTHG im Bereich Bedarfsermittlung und Gesamtplanverfahren
Dr. Tolmein wies zunächst darauf hin, dass sich im Themen Bedarfsermittlung und Gesamtplanverfahren insbesondere für Leistungsberechtigte zahlreiche Veränderungen ergeben hätten. Entgegen dem Teilhabeplanverfahren müsse das Gesamtplanverfahren in jedem einzelnen Fall der Eingliederungshilfe Anwendung finden. Dr. Tolmein wies zudem auf die Problematik hin, dass das Gesamtplanverfahren an sich noch kein Verwaltungsakt darstelle und sich daher Fragen zu den Verfahrensrechten der Leistungsberechtigten im Rahmen des Gesamtplanverfahrens stellen. Zugleich seien aber schon im Gesamtplanverfahren etwa sozialdatenschutzrechtliche Herausforderungen verbunden, die eine klare Regelung voraussetzen. Der Rechtsanspruch der Leistungsberechtigten richte sich lediglich auf die eigentliche Durchführung des Gesamtplanverfahrens, nicht aber auf darin enthaltene Leistungen und Verfahrensschritte.
Die im BTHG enthaltene Orientierung der Bedarfsermittlungsinstrumente an der ICF sei für Dr. Tolmein nicht gleichbedeutend damit, dass die ICF zwingend eingehalten werde müsse. Neben der Orientierung an der ICF müssten sich die Bedarfsermittlungsinstrumente der Eingliederungshilfe auch an die Vorgaben des § 13 SGB IX halten. Ein Problem der neuen Instrumente sei aber, dass diese noch sehr medizinisch ausgerichtet sein werden, da die Teilhabe nicht durch Mediziner/innen im Sinne von Kompensation, sondern durch die Menschen mit Behinderungen beurteilt werden müsse. Wenn gemäß dem neuen Behinderungsverständnis des BTHG die Teilhabeeinschränkung im Zusammenspiel zwischen Beeinträchtigungen und Umweltfaktoren zustandekommt, müssten neben der Ermittlung des Bedarfs auch die Barrieren in der Umwelt erfasst werden. Ein weiteres Bedenken aus Sicht der Leistungsberechtigten bestehe darin, sich im Rahmen eines sehr umfassenden Bedarfsermittlungsverfahrens, das auch in weniger komplexer Fällen Anwendung findet, gläsern zu machen. Dies betrifft beispielsweise die derzeitigen Aktivitäten der Leistungsberechtigten, die in den neuen Instrumenten abgefragt werden, gemäß Dr. Tolmein aber keine relevante Information für den Leistungsträger sei.
Insgesamt stärke das Gesamtplanverfahren die Rechte der Leistungsberechtigten, aber die Vorgaben erfolgen durch die Verwaltung, wobei das Ziel des Gesamtplanerfahrens Leistungssteuerung, Dokumentation und Wirkungskontrolle seien und – so das Fazit von Dr. Tolmein – damit den Fokus auf die Interessen der Verwaltung richte. Offen sei dabei vor allem die Umsetzung der Vorgabe, dass das Gesamtplanverfahren konsensorientiert ausgestaltet werden soll.
Input zum Stand der Erarbeitung des Bedarfsermittlungsinstruments in Bayern
Frau Neumann-Redlin ging zunächst auf das Bay_THG I ein, dass noch umfassendere Kriterien für das zu entwickelnde Bedarfsermittlungsinstrument enthalte als das BTHG, u. a. da das Instrument in Bayern auch die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen abdecken soll und ermittelt werden soll, welche Möglichkeiten im Sozialraum zur Verbesserung der Teilhabe vorhanden sind. Darüber hinaus sollen sich die Eingliederungshilfeträger an den Empfehlungen der BAR orientieren, um die Anforderungen an das Teilhabeplanverfahren zu umfassen. Für die Entwicklung des Bedarfsermittlungsinstruments wurde auf Grundlage des Bay_THG I eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen. Die Geschäftsordnung der Arbeitsgruppe sieht vor, dass das Instrument mit einer Mehrheit von 80 Prozent der Mitglieder verabschiedet wird, wodurch kein Beschluss ohne die Stimmen der Selbsthilfeverbände getroffen werden kann. Die Aufgaben der Arbeitsgruppe sind die Entwicklung des Instruments, die Begleitung der Einführung und Weiterentwicklung sowie die Ausarbeitung von Orientierungshilfen und die Berichterstattung. In der Arbeitsgruppe wurden auch die bestehenden Instrumente anderer Bundesländer geprüft, im Ergebnis hat sich die Arbeitsgruppe jedoch dafür entschieden, das in Bayern bestehende Gesamtplanverfahren weiterzuentwickeln und damit ein eigenständiges Instrument zu entwickeln.
Im Anschluss stellte Frau Neumann-Redlin den aktuellen Arbeitsentwurf des neuen bayerischen Bedarfsermittlungsinstruments vor, der momentan noch aus einem überarbeiteten Arztbericht und Sozialbericht besteht. Für den Arztbericht, der durch Mediziner/innen ausgefüllt wird und die Körperfunktionen und -strukturen beinhaltet, ging sie darauf ein, dass zahlreiche ICF-Items aufgenommen und wurden, die jeweils nach dem Schweregrad der Beeinträchtigung beurteilt werden können. Eine wichtige Unterscheidung zum bisherigen Arztbericht ist, dass die Mediziner/innen bislang eine Einschätzung abgeben sollten, ob eine Behinderung vorliegt oder nicht. Diese Entscheidung kann nach dem neuen Behinderungsverständnis des BTHG nicht mehr auf medizinischer Grundlage getroffen werden, sondern muss im Rahmen des Gesamtplanverfahrens durch die Sachbearbeiter/innen bei den Trägern der Eingliederungshilfe entschieden werden.
Im Sozialbericht wurden durch die Arbeitsgruppe eingefügt, dass die Person des Vertrauens benannt werden soll, Angaben über die Ausbildung, Schulbesuche, Arbeitsstätten und vorausgegangene Maßnahmen hingegen wegfallen sollen. Im weiteren Verlauf des Sozialberichts werden die Wünsche und Ziele des Betroffenen in den neun Lebensbereichen der ICF abgefragt und mit der aktuellen Situation verglichen. Die für die einzelnen Lebensbereiche wichtigen Items der ICF wurden durch die Arbeitsgruppe vorab ausgewählt. Im Anschluss folgt eine zusammenfassende, tabellarische Darstellung der Teilhabeeinschränkung in den Lebensbereichen, die für den Menschen mit Behinderungen relevant sind. Hierzu existieren jedoch noch Alternativvorschläge innerhalb der Arbeitsgruppe, über die in der nächsten Sitzung entschieden werde.
Frau Neumann-Redlin wies darauf hin, dass der Sozialbericht durch die Fachkraft des Eingliederungshilfeträgers auszufüllen ist, wobei man mit Blick auf die verfügbaren Ressourcen noch besprechen müsse, ob dies in jedem Einzelfall möglich ist oder ob dies nicht eher nur bei bestimmten Leistungskatalogen notwendig ist. Zudem werden die Berichte durch EDV unterstützt, wodurch Aspekte, die für den Einzelfall nicht relevant sind, ausgeblendet werden können. Dadurch könnten die neuen Formulare übersichtlich gestaltet und gleichzeitig die wesentlichen Anforderungen des BTHG aufgenommen werden.
Das nächste Treffen der Arbeitsgruppe finde am 22. November 2018 statt, auf der eine Richtungsentscheidung für das neue Instrument auf den Weg gebracht werden soll.
Fragen aus dem Publikum
Rolle und Aufgaben der Leistungserbringer im neuen Gesamtplanverfahren
Ein Teilnehmer aus dem Bezirk Schwaben merkte an, dass in der Psychiatrie regionale Ausrichtung unterstützt werden solle, wofür im Bezirk Schwaben gemeindepsychiatrische Verbünde gegründet wurden. Die Regelung ist momentan so, dass die Koordinatorin der gemeindepsychiatrischen Verbünde in die Bedarfsermittlung eingebunden ist. Damit verbunden stellte er die Frage, ob Leistungserbringer zukünftig nicht mehr bei der Bedarfsermittlung eingebunden sind, sondern der Leistungsträger dies zusammen mit dem Leistungsberechtigten feststelle und ob die Koordinatorin der gemeindepsychiatrischen Verbünde weiterhin als Vertrauensperson eingebunden werden kann.
Ein Vertreter eines Leistungserbringers ergänzte, dass gerade bei Menschen mit geistigen Einschränkungen Unterstützung notwendig sei, die der Eingliederungshilfeträger mit der aktuellen Qualifizierung des Personals nicht sicherstellen könne.
Frau Neumann-Redlin antwortete, dass nur eine Person des Vertrauens im Rahmen des Gesamtplanverfahrens hinzukommen könne und dies könne auch eine Person der gemeindepsychiatrischen Verbünde sein. Dies sei im BTHG klar geregelt. Die Voraussetzung hierfür ist aber, dass der Leistungsberechtigte dies so verlangt. Gudrun Mahler, Diakonie Bayern und Mitglied in der AG 99 sowie der UAG Sozialbericht, ergänzte, dass die Vertrauensperson nur durch den Leistungsberechtigten auszuwählen ist und auch wenn ein Leistungserbringer als Vertrauensperson gewählt wird, er dann in der Rolle der Person des Vertrauens des Leistungsberechtigten auftreten müsse. Dr. Tolmein äußerte Bedenken, wenn Leistungserbringer als Person des Vertrauens einbezogen werden, da hier durchaus ein Interessenkonflikt zwischen Leistungsberechtigten und Leistungserbringern vorhanden ist.
Ein weiterer Vertreter eines Leistungserbringers fragte, wie sich der Aufwand zum Nachweis der Leistungserbringung in Einrichtungen in Zukunft darstellen wird und ob die hierfür aktuell eingesetzten Hilfeplan- und Entwicklungsbögen (HEB-A-Bogen, HEB-B-Bogen und HEB-C-Bogen) weiterhin Bestand haben werden. Frau Neumann-Redlin antwortete, dass diese Bögen im Grundstaz erhalten bleiben werden, aber inhaltlich mit dem neuen Bedarfsermittlungsinstrument kompatibel sein müssten. Die Überarbeitung der Bögen erfolge nach Fertigstellung des Bedarfsermittlungsinstruments.
Erfassung der für den Leistungsberechtigten relevanten Lebensbereiche der ICF
Zudem wies Frau Mahler darauf hin, dass im neuen Bedarfsermittlungsinstrument zwar alle Lebensbereiche der ICF abgebildet werden. Im eigentlichen Gespräch sollen jedoch nur die Aspekte thematisiert werden, die für den Einzelfall relevant sind. Insofern könne auch verhindert werden, dass der Leistungsberechtigte gläsern wird. Herr Dr. Tolmein antwortete hieraus, dass dies ein Fortschritt sei, dass das Problem jedoch darin bestehe, dass dies im BTHG nicht explizit so geregelt sei. Im BTHG sei nur geregelt, dass alle Lebensbereiche abgefragt werden müssten. Für die Regelungen in den Bundesländern sei es daher wichtig in den Instrumenten die Vorgabe zu machen, dass nur die Abfrage der Bereiche vorgenommen werden muss, die auch für den Leistungsberechtigten relevant sind.
Weiterentwicklung von Arzt- und Sozialbericht zu einem Bedarfsermittlungsinstrument Bayern (BEI_Bay)
Ein weiterer Vertreter eines Leistungserbringers fragte, wie eine Bedarfsermittlung auf Grundlage des bio-psycho-sozialen Wechselwirkungsmodells der ICF gelingen kann, wenn die verschiedenen Komponenten der ICF nicht gemeinsam, sondern in einem Arzt- und Sozialbericht getrennt erhoben werden. Frau Neumann-Redlin wies darauf hin, dass die Integration in ein einheitliches Instrument mit dem Arbeitstitel Bedarfsermittlungsinstrument Bayern (BEI_Bay) geplant sei. Frau Mahler ergänzte, dass die wichtigste offene Frage ist, wann die Fachkraft des Eingliederungshilfeträgers die Ergebnisse des Arztberichtes einbindet und es somit zu einer Gesamtschau der Beeinträchtigungen und Teilhabeeinschränkungen des Leistungsberechtigten kommt. Dies müsse auf der nächsten Sitzung der Arbeitsgruppe geklärt werden.
Auf die abschließende Frage nach der weiteren Zeitplanung sagte Frau Neumann-Redlin, dass sich die Einführung des Bedarfsermittlungsinstruments verzögert hätte, da zunächst die Regelungen des Bay_THG I abgewartet werden mussten. Die Einführung sei nun aber für Anfang des Jahres 2019 geplant, wobei es voraussichtlich noch eine Übergangsphase mit Pilotprojekten zur Erprobung des neuen Instruments geben werde.