Input durch Marc Nellen (BMAS)
In seinen einleitenden Worten erklärte Marc Nellen zunächst, was mit der Trennung der Leistungen gemeint und beabsichtigt sei. Die Trennung der Fach- von den existenzsichernden Leistungen sei im Grunde das Herzstück des BTHG, so Nellen. Die Grundidee sei, dass Menschen mit Behinderungen, die heute in einer stationären Einrichtung leben, künftig hinsichtlich ihrer Lebensunterhaltsleistungen genauso behandelt werden, wie Menschen ohne Behinderungen. Keineswegs sei mit der Reform die Abschaffung der bisherigen „stationären“ Einrichtungen beabsichtigt. Vielmehr sei es das Ziel, den Menschen eine selbstbestimmte Entscheidung und mehr Wahlfreiheit zu ermöglichen. Insbesondere vor dem Hintergrund der verschiedenen Arten von Behinderungen und der Personenzentrierung sei es geboten, die Leistungen am persönlichen Bedarf jedes Einzelnen auszurichten. Um das zu erreichen, werde die heutige Komplexleistung in ihre Bestandteile zerlegt: zum einen der Lebensunterhalt, der nach Regelbedarfsstufe II zu bemessen ist, und zum anderen die Fachleistung.
AG Personenzentrierung
Gesetzlich sei das womöglich „in zu dürren Worten“ fixiert worden, räumte Nellen ein. Die Diskussionen in der AG Personenzentrierung und ihr veröffentlichtes Papier hätten den Nachbesserungsbedarf noch einmal verdeutlicht. Vor Inkrafttreten der neuen Gesetzeslage 2020 werde der Gesetzgeber diesbezüglich noch nachsteuern.
Im Zuge der Arbeit der AG Personenzentrierung habe man sich mit den Ländern sowie mit Leistungserbringern auf eine gemeinsame Lesart der Rechtsvorschriften, insbesondere des § 42a SGB XII geeinigt und im Anschluss daran die Grundsätze der Flächenzuordnung erarbeitet.
Im Zuge dessen habe sich als „typische“ Aufteilung einer Komplexeinrichtung das Verhältnis 80 (Wohnflächen) zu 20 (Fachleistungsflächen) als verwaltungsrechtliche Grundlage in den Ländern herauskristallisiert. Ab 2020 werden dann die existenzsichernden Leistungen vom Bund getragen, während die Fachleistungen in den Bereich der Träger der Eingliederungshilfe fallen. Die Frage, die sich aktuell stelle, sei jene nach der Kostenzuordnung.
Gemäß der AG Personenzentrierung sei der Ausgangspunkt die Kostenkalkulation des gesamten Gebäudes, einschließlich der mit dem Gebäude verbundenen Flächen, in der künftig insbesondere Wohnformen nach § 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII Eingliederungshilfebezieher/innen zur Nutzung überlassen werden sollen. Was konkret das bedeute, sei Bestandteil der Landesrahmenvertragsverhandlungen.
Zuordnung und Ermittlung einer kalkulatorischen Miete
Unterteilen lassen sich die Gebäude in Wohn-, Fachleistungs- und Mischflächen (Flure, Eingangsbereiche, Energieversorgungsräume etc.). Anhand dieser Flächen erfolgt die Zuordnung. Ziel der Konzeption war zudem ein verwaltungseinfaches Modell, das alle Aufwendungen und laufenden Kosten in die gesamte Kostenkalkulation aufnimmt. Die gesamten Aufwendungen werden ins Verhältnis zu den Wohn- und Fachleistungsflächen gesetzt und daraus ergibt sich eine kalkulatorische Miete.
Aufteilung in der Praxis
Vereinfacht lasse sich festhalten, dass alles, was eine normale Wohnung von einer besonderen Wohnform unterscheidet, als Fachdienstfläche gelten kann. In der Regel ergebe das ein Verhältnis von 80 zu 20, wobei diese Aufteilung aber keine konkrete Werteempfehlung sei. Sie könnte jedoch in die Landesrahmenverträge übernommen werden und auf dieser Basis dann die Abrechnung erfolgen.
Schritte zur Kostenkalkulation
1. Flächenzuordnung nach Wohnflächen, Fachleistungsflächen und Mischflächen;
2. Aufteilungsschlüssel bestimmen (Verhältnis von Wohnflächen zu Fachleistungsflächen);
3. Mischflächen anhand des Aufteilungsschlüssels den Wohn- und Fachleistungsflächen zuordnen;
3. Kalkulatorische Miete für Wohnflächen und Fachleistungsflächen berechnen (Kalkulatorische Miete je m2 für Wohn- und Fachleistungsflächen ergibt sich aus der Kostenkalkulation des gesamten Gebäudes anhand des Aufteilungsschlüssels);
4. Mietnebenkosten anhand des Aufteilungsschlüssels der kalkulatorischen Miete zum Lebensunterhalt oder zu den EGH-Fachleistungen zuordnen.
Aufteilung der Bedarfe außerhalb der Kosten der Unterkunft
Mit der Ermittlung der Regelbedarfe und Lebensunterhaltsbedarfe habe sich jüngst die Länder-Bund-Arbeitsgruppe beschäftigt und Empfehlungen erarbeitet. Kernfrage war dabei, wie der bisherige Barbetrag zugeordnet werden und wie Betroffenen auch künftig ein bestimmter Betrag zur Verfügung stehen könne.
Dafür sei zunächst die Frage zu beantworten, welche regelbedarfsrelevanten Bedarfe durch die Einrichtung abgedeckt werden und welcher Betrag von den Leistungsberechtigten dadurch in Rechnung gestellt wird. Die Empfehlung der LBAG vom 18. Oktober 2018 sieht vor, dass die Leistungserbringer von den 374 Euro der Regelbedarfsstufe 2 den Leistungsberechtigten 262 Euro in Rechnung stellen können, sodass der heutige Barbetrag von 112 Euro erhalten bleibt.
Der zentrale Unterschied zur alten Gesetzeslage sei, dass der Betroffene selbst Anspruchsinhaber der Lebensunterhaltsleistung ist. Im Rahmen des neuen Gesamtplanverfahrens ist dann individuell zwischen Betroffenen und der Einrichtung u. a. auszuhandeln, was dem Betroffenen letztendlich zur freien Verfügung bleibt.
Offene Fragen
Unklarheit herrsche beispielsweise noch bei der Klärung steuerrechtlicher Fragen im Bereich der Gemeinnützigkeit. Damit die Gemeinnützigkeit der Einrichtungen durch die Trennung der Leistungen nicht gefährdet wird, führe das BMAS aktuell Gespräche mit dem Bundesministerium der Finanzen. Eine Verschlechterung für die Leistungserbringer soll damit verhindert werden.
Bayerische Übergangsregelung
Herbert Borucker vom Deutschen Caritasverband, Landesverband Bayern, erinnerte im Anschluss daran, dass in den Verhandlungen im Bundesland Bayern zwar beinahe Konsens zwischen den Bezirken und den Leistungserbringern bezüglich der sogenannten Übergangsregelung herrsche, ein neuer Landesrahmenvertrag jedoch noch nicht abgeschlossen sei.
Input durch Wolfgang Tyrychter und Herbert Borucker
Die Perspektive der Leistungserbringer legte Wolfgang Tyrychter vom Dominikus Ringeisenwerk Ursberg dar. Er räumte ein, dass die Leistungserbringer auch aufgrund der verhältnismäßig jungen Erkenntnisse noch nicht komplett durchdringen konnten, was bei der Trennung der Leistungen zu beachten sei.
Sieben Handlungsfelder, die seitens der Leistungserbringer als große Herausforderungen gelten, stellte Herr Tyrychter heraus:
- Ermittlung der Flächen der (bisherigen) stationären Einrichtungen (Wohn-, Fachleistungs- und Mischflächen)
- Antragsverfahren (zu welchem Zeitpunkt ist welcher Antrag notwendig und wie werden die Anträge auf Grundsicherung nach SGB XII und auf Fachleistung nach SGB IX nach Fachleistungen zu differenziert)
- Aushandlungsprozess zwischen Leistungserbringer und –berechtigten bezüglich der Verwendung des Regelbetrags
- Pauschalierung der Kosten der Unterkunft nach § 35 SGB XII (Findet die Pauschalierung auf Bezirks-, Landkreis oder auf kommunaler Ebene statt?)
- Umgang mit den nicht personenbezogen zählbaren Nebenkosten wie Strom, Heizung, Wasser etc. (Werden Pauschalen festgesetzt bzw. welcher Nachrüstungsaufwand besteht für die Gebäude?)
- Änderung der Wohn- und Betreuungsverträge nach WBVG (Fraglich ist der Zeitpunkt der Vertragsänderungen sowie dessen Bestandteile und woher die Antragsmuster stammen.)
- Trennung der Leistungen in neuen Leistungsvereinbarungen (Woher bzw. wie erheben die Leistungserbringer die Daten für die Kalkulationen?)
In diesem Zusammenhang unterstrich Herr Tyrychter den erheblichen Erhebungs- und Verwaltungsaufwand sowie die hohe Komplexität der Auseinandersetzung mit den Regelungsinhalten. Viele Fragen seien auf Landesebene noch offen. Herr Tyrychter schloss seine Ausführungen mit dem Appell, dass die Leistungserbringer rechtssichere Berechnungs- und Kalkulationsschemata benötigten, damit die Leistungserbringung auf bisherigem Niveau sichergestellt werden kann.
Ermittlung und Zuordnung der Flächen
Nach Herrn Tyrychter ergriff abermals Herbert Borucker das Wort. Er erinnerte daran, dass über die Systematik der Fachleistungen ab 2020 in Bayern noch keine Einigkeit bestehe. Gemäß der Übergangsregelung würden unter der Maßgabe der budgetneutralen Umstellung aus einem Gesamtentgelt die Kosten der Unterkunft etc. abgezogen, um den entsprechenden Fachleistungsbetrag zu ermitteln. Seit kürzester Zeit erfolge in Bayern nach einem einheitlichen Tool und nach einem einheitlichen Verfahren die Ermittlung und Zuordnung der Flächen in Anlehnung an die Empfehlungen der AG Personenzentrierung vom 28. Juni 2018. Die AG Verhandlungen, ein Gremium der Landesentgeltkommission, habe zudem eine „Hilfestellung zur Flächenzuordnung“ und entsprechende Erläuterungen zur Verfügung gestellt, anhand derer die Umsetzung erfolge.
Ziel der Aufteilung sei die Ermittlung eines Flächenverteilungsschlüssels, anhand dessen eine „Quotenbildung“ erfolgen könne. Diese Quote könne hernach sowohl der Berechnung der kalkulatorischen Kosten für Wohnraumüberlassung als auch der Kosten für betriebsnotwendige Anlagen der Fachleistung der Eingliederungshilfe zugrunde gelegt werden.
Als nächstes müssten nunmehr die Kosten der Wohnraumüberlassung im Rahmen der Übergangsregelung ermittelt und Vereinbarungen über einen Investitionsbetrag für die Fachleistungen getroffen werden. Die Leistungserbringer müssten in künftigen Verträgen nach WBVG die entsprechenden Kosten ausweisen. Dem Grundsicherungsträger wird in diesem Zusammenhang das Signal gegeben, dass der erhobene Betrag angemessen ist, bzw. in einem zweiten Schritt die Möglichkeit eingeräumt, zu überprüfen, ob die gesetzlich verankerten Hürden überschritten werden. Um den zusätzlichen Aufwendungen und Risiken für die Leistungserbringer gerecht zu werden, sei ein BTHG-Zuschlag „dringend geboten“, forderte Borucker.
Angemessenheit der Kosten der Unterkunft
Marc Nellen zeigte sich im Anschluss erfreut darüber, dass Bayern offenbar auf einem guten Stand sei und die Gedanken schon sehr konkret seien. Was die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft betrifft, strebe das BMAS die Klarstellung an, dass als Vergleichsgröße die Miete eines Ein-Personen-Haushalts in jener Kommune herangezogen werde, in der die Einrichtung angesiedelt ist. Zudem kündigte Nellen an, dass künftig von der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft ausgegangen werden soll (aktuell besteht hier eine Kann-Regelung). Für die automatische Erhöhung der Angemessenheitsgrenze auf 125 Prozent (bezogen auf den Vergleichswert) genüge es, eine der vier Kriterien nach §42a Abs. 5 SGB XII in den WBVG-Verträgen nachzuweisen. Konkretisieren wolle der Gesetzgeber außerdem, dass alle Kosten, die diese 125-Prozent-Grenze übersteigen, den Fachleistungen zuzuordnen sind.
Fragen aus dem Publikum
Auf die Frage von Ursula Schulz (Lebenshilfe Landesverband Bayern), ob die Kostenübernahme auch für Menschen gelte, die keine Grundsicherungsempfänger sind, stellte Marc Nellen klar, dass die Lebensunterhaltsleistungen an die Bedürftigkeit gekoppelt seien.
Ein anderer Teilnehmer erkundigte sich nach der rechtlichen Haltbarkeit der 80/20-Regelung. Herbert Borucker versicherte, dass aktuell juristisch geprüft werde, wie weit die Differenzierung gehen kann und dass diese auch in den Landesrahmenvertrag aufgenommen werden solle. Die Leistungserbringer würden einem späteren Zeitpunkt konkrete Angaben machen können.
Gefragt nach dem zeitlichen Plan für das BTHG-„Reparaturgesetz“ kündigte Marc Nellen an, dass die Anpassungen, um ab 2020 zu gelten, im Jahr 2019 im Bundesgesetzblatt stehen müssen. Daher gehe er davon aus, dass der Gesetzgebungsprozess Anfang 2019 beginne. Im Zuge dessen sollen auch die Leistungsberechtigten nach Kapitel 3 berücksichtigt werden.
Ein Teilnehmer aus dem Bereich der EUTB erkundigte sich, wie der Gedanke der Personenzentrierung und der Flexibilität für die Bewohner zu vereinbaren ist mit dem Ziel der Leistungserbringer, die Komplexeinrichtungen nicht schlechter zu stellen. Marc Nellen stimmte zu, dass die Prozesse, nicht einhundertprozentig widerspiegeln, was mit dem BTHG beabsichtigt worden war. Die Zielsetzung des BTHG werde verfehlt, wenn der Fokus des Transformationsvorganges darauf liege, wie die Einrichtungen den Besitzstand wahren können. Herbert Borucker erwiderte darauf, dass es den Leistungserbringern um die Regelung des Übergangs, nicht um die Wahrung von Besitzstand gehe. Im Sinne der Leistungserbringer, aber insbesondere im Interesse der Leistungsberechtigten verfolge man das Ziel, sicherzustellen, dass zum 1. Januar 2020 die entsprechenden notwendigen Leistungen weiterhin erfüllt werden.
Ein Mitarbeiter eines Leistungserbringers fragte, weshalb die Freie Wohlfahrt bei der Erarbeitung der Empfehlungen der LBAG nicht beteiligt wurde. Marc Nellen legte dar, dass das Papier sozusagen „work in progress“ sei und in einer Unterarbeitsgruppe der LBAG entwickelt wurde. Selbst das BMAS sei erst spät involviert worden. Welchen praktischen Wert das Papier habe, lasse sich aktuell nicht absehen.
Trennung der Leistungen als Grundlage für Personenzentrierung
Zusammenfassend stellte Moderator Philipp Späth noch einmal die Schwierigkeit der Ermittlung der Kosten der Unterkunft heraus. Aktuell befinde man sich in einer Übergangsphase mit entsprechenden Übergangsregelungen für Bayern. Unisono verfolge man das Ziel, dass Leistungserbringer nicht schlechter gestellt werden und vor allem, dass Leistungsberechtigte ab dem 1. Januar 2020 nach wie vor die Leistungen bekommen, die sie benötigen. Die Möglichkeiten, die mit der Trennung der Leistungen erreicht werden, führten zu einer Überwindung des bisher sehr statischen Modells der schlichten Unterscheidung nach dem Ort bzw. der Art der Unterkunft hin zu einer Orientierung am persönlichen Bedarf.
Viel sei bereits in Bewegung. Nach 2020 werde diese Bewegung noch einmal an Fahrt aufnehmen. Sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene seien die Stolpersteine erkannt und entsprechende Nachbesserungen beabsichtigt, stellte Philipp Späth abschließend fest.