Hintergrund UN-BRK
Gemäß Artikel 19 UN-BRK (Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gesellschaft) ist durch die Unterzeichnerstaaten u.a. „zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigte Möglichkeiten haben zu wählen, wo und mit wem sie leben. Zugleich ist ihnen Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu gewähren, um Absonderung und Isolation zu verhindern.“
Ausgangspunkt: Komplexleistung in stationären Einrichtungen
Menschen mit Behinderungen, die in den bisherigen stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben, erhalten derzeit eine Komplexleistung, in die sowohl existenzsichernde Leistungen wie Wohnen und Ernährung (in pauschalierter Form) als auch die eigentlichen Fachleistungen der Eingliederungshilfe einfließen. Leistungserbringer stellen gestaffelt nach Hilfebedarfsgruppen ein Paket an Leistungen zur Verfügung. Dank der Pauschalierung haben sie Spielräume, um auch schwankende und unregelmäßige Bedarfe innerhalb eines Leistungszeitraumes zu decken.
Zur Überführung der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII in das SGB IX müssen nun Leistungserbringer herausfinden, welcher Anteil der für den Betrieb ihrer Einrichtungen entstehenden Kosten tatsächlich auf die Erbringung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe entfällt. Ferner müssen die Akteure zur Vorbereitung der Landesrahmenverträge bestimmen, welche konkreten Fachleistungsbedarfe es gibt und wie die Angebotsstruktur künftig ausgestaltet und finanziert werden soll.
Nur die eigentlichen Fachleistungen, nicht aber Leistungen der Existenzsicherung, sollen künftig durch die Träger der Eingliederungshilfe finanziert werden. Sofern Leistungen zur Existenzsicherung im Einzelfall notwendig sind, werden diese aus den Systemen der Grundsicherung, nicht aber durch die Träger der Eingliederungshilfe erbracht. Zugleich werden ab 2020 die bislang engen (sozialhilferechtlichen) Einkommens- und Vermögensfreigrenzen angehoben, sodass dann auch Menschen Teilhabeleistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch können, denen das bislang nicht möglich war.
Empfehlungen der AG Personenzentrierung beim BMAS und des Deutschen Vereins
Im ersten Schritt muss die Gesamtfläche jeder bislang über die Komplexleistung finanzierten Einrichtung dazu in diejenigen Teilflächen unterteilt werden, die dem Wohnen und der „Existenzsicherung“ einerseits bzw. der eigentlichen Fachleistung andererseits dienen.
Dieter Lutz, Referatsleiter V b 1 Grundsatzfragen der Sozialhilfe, Lebensunterhaltsleistungen, (Bundesministerium für Arbeit und Soziales), stellte die Empfehlung der AG Personenzentrierung beim BMAS vom 28. Juni 2018 (AG Personenzentrierung 2018) vor. Er ging auf den Rechtscharakter der Empfehlung und darauf ein, dass das BMAS sehr bemüht war, gemeinsam mit den Akteuren möglichst frühzeitig eine erste Hilfestellung zur Leistungstrennung zu erarbeiten. Die Empfehlung selbst stellt zunächst den rechtlichen Rahmen der Leistungstrennung dar und geht im Einzelnen auf Abgrenzungsfragen zwischen Kosten der Unterkunft und Leistungen der Eingliederungshilfe ein. In der Anlage zur Empfehlung findet man ein Modell zur Flächenzuordnung und Finanzierung von ehemaligen stationären Einrichtungen (AG Personenzentrierung 2018: 14ff.).
Birte Johannsen, Deutscher Verein e.V. (AF IV Alter, Pflege, Rehabilitation, Gesundheit, Steuerung Sozialer Dienste) referierte im Anschluss über die Empfehlung des Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. vom 12. September 2018 (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. 2018). Sie skizzierte zum besseren Verständnis zunächst die paritätische Zusammensetzung der Gremien des Deutschen Vereins und die Bedeutung dort geeinter Papiere, die zwar ebenfalls keine rechtliche Verbindlichkeit haben, aber deren Stärke der Konsens unter den Akteuren des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses ist. Die Empfehlung geht ebenfalls zunächst auf den rechtlichen Hintergrund und die mit dem BTHG einhergehenden Änderungen für die aus den Systemen der Grundsicherung zu finanzierenden Leistungen der Existenzsicherung und die Fachleistungen der Eingliederungshilfe ein. Anschließend werden typische Flächen und Kostenpositionen derzeitiger stationärer Einrichtungen dargestellt und argumentativ den Kosten der Unterkunft, dem Regelsatz und Mehrbedarfen beziehungsweise den Fachleistungen der Eingliederungshilfe zugeordnet.
Eine eindeutige Zuordnung aller Flächen bzw. Kostenbestandteile ist nach beiden Papieren nicht möglich. Es verbleiben auch sogenannte „Mischflächen“, die sowohl der einen als auch der anderen Kategorie zugeordnet werden können. Es sei entscheidend, die jeweilige Ausgestaltung vor Ort zu betrachten, sofern keine pauschalierenden Regelungen getroffen werden (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. 2018: 13).
In der anschließenden Diskussion gingen die Anwesenden übereinstimmend davon aus, dass die tatsächlichen Kosten der Unterkunft des einzelnen Bewohners voraussichtlich immer einen Betrag in Höhe von mindestens 125 Prozent der ortsüblichen Vergleichsmiete erreichen werden. Unklarheit bestand darin, aus welchem Grund man dann überhaupt jede Einrichtung soll ausmessen müssen. Eine Überlegung aus dem Plenum war, die Kosten der Unterkunft für das ganze Bundesland zu pauschalieren.
Die Kosten der Unterkunft sind erst der Anfang
Der zweite Veranstaltungstag diente zunächst dem intensiven Austausch unter den Teilnehmer/innen. Vertreter/innen der Leistungserbringer und der Leistungsträger setzten sich zunächst in getrennten Gruppen mit den anstehenden Herausforderungen auseinander, die einerseits mit der Flächenzuordnung, andererseits aber auch mit dem Zuschnitt und der Finanzierung der Leistungen ab 2020 einhergehen. Die vorgesehene AG der Vertreter der Selbsthilfe musste mangels Teilnahme leider entfallen.
Das galt auch für die am Nachmittag anschließende AG 4 mit dem Thema „Mitwirkung maßgeblicher Interessenvertretungen“. Ziel der AG war es war einen Austausch unter den Vertretern der Selbsthilfe zu ermöglichen bzw. die mit der Partizipation für diese Akteursgruppe einhergehenden Schwierigkeiten und etwaigen Lösungswegen zu erörtern.
In den übrigen drei Arbeitsgruppen wurde indessen lebhaft und teilweise sehr detailreich diskutiert. In der AG 1 „Umgang mit heim-und ordnungsrechtlichen Vorschriften“ wurde die praktische Möglichkeit der Leistungstrennung sehr kritisch gesehen, weil die Schutzvorschriften des Wohn-und Betreuungsvertragsgesetzes, Vorschriften zum Brandschutz, zum Infektionsschutz und aus dem Baurecht ja gerade zu Gunsten der besonders hilfebedürftigen Bewohner gemeinschaftlicher Wohnformen geschaffen worden sind. Die besondere Schutzbedürftigkeit des Klientels entfällt zum 1. Januar 2020 nicht.
Während die Landesheimgesetze teilweise Modifikationen im Schutzniveau zugunsten neuer Wohnformen zulassen, wurde im Forum die Frage aufgeworfen, inwieweit im Übrigen Rechtsänderungen notwendig sind, um die Umsetzung der UN-BRK zu gewährleisten ohne den Schutz von Menschen mit Behinderungen aufzugeben.
Etwas abseits vom eigentlichen Thema dieser AG wurde noch besprochen, wie mit den Kosten für auf dem Gelände einer Einrichtung der Eingliederungshilfe betriebene Kapellen oder Schwimmbädern bzw., auch den Kosten zur Erhaltung teilweise weitläufiger oder Parks/Wege/Tiergehege oder Reithallen umgegangen werden soll. Für einige dieser Angebote könne man versuchen, andere Rehabilitationsträger mit zur Finanzierung heranzuziehen.
In der AG 2 zum Thema „KdU und die Ermittlung einer kalkulatorischen Miete“ war ursprünglich geplant, ausgehend von der Flächenzuordnung die Positionen der Betriebskostenverordnung durchzugehen und zu prüfen, welche weiteren Kosten der bisherigen Komplexeinrichtung KdU-relevant sind. Einer der Teilnehmer stellte spontan eine Excel-Tabelle zur Ermittlung einer kalkulatorischen Miete vor, die in der Dokumentation auch hier verfügbar ist.
Herr Lutz stellte in der AG 3 „Regelsatz und Mehrbedarfe“ den Teilnehmer/innen zunächst die Konstruktion und Zusammensetzung von Regelsatz und Mehrbedarfen in der Sozialhilfe sowie die dazugehörigen Vorschriften vor. Es wurde dann insbesondere diskutiert, ob der bisher beim Leistungsberechtigten verbleibende „Barbetrag“ tatsächlich in der bisherigen Höhe erhalten bleiben kann, wenn die dem Regelsatz zuzuordnenden Kosten der in Anspruch genommenen Leistungskombination höher sind, als die Differenz zwischen Regelsatz und bisherigem Barbetrag. Mit der Einordnung der Leistungsberechtigte in den bisherigen stationären Einrichtungen in Regelbedarfsstufe 2 müssten erst konkrete Erfahrungen gemacht werden. Die Vergleichbarkeit mit gemeinsam lebenden sonstigen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft schien zunächst eher gegeben, als die Vergleichbarkeit mit einem allein wohnenden Leistungsberechtigten. Möglicherweise müsse das Gesetz an dieser Stelle nachgebessert werden, wenn man feststellt, dass die Regelbedarfsstufe 2 regelhaft nicht ausreichend ist.
Frau Dr. Engel, die für das Land Berlin eine Studie zur Leistungsstruktur in der Eingliederungshilfe erstellt hat, rundete den Tag mit einem Vortrag zu personenzentrierten Leistungen ab, die der Leistungsberechtigte künftig je nach individuellem Bedarf auch bei unterschiedlichen Leistungsanbietern soll in Anspruch nehmen können. Sie ging hierbei auch auf die bislang schon bestehenden Möglichkeiten des Persönlichen Budgets und die künftig neuen Möglichkeiten der pauschalen Geldleistung und der gemeinsamen Inanspruchnahme (beispielsweis von Nacht-und Rufbereitschaften) ein.
Praxisbeispiel: Modellprojekt Mittelfranken
Am dritten Veranstaltungstag stellten Michael Schubert (Caritas Verband Nürnberger Land e.V., Bereichsleiter Gemeinschaftliches Wohnen, Don-Bosco-Haus) und Jörg Dennhöfer (Bezirk Mittelfranken, Teamleitung beim Arbeitsbereich 27, Sozialpädagogisch-Medizinischer Dienst) in einem sehr lebendigen gemeinsamen Input das „Entwicklungsprojekt Leistungsmodule“ aus dem Bezirk Mittelfranken vor. Angesichts steigender Fallzahlen in der Eingliederungshilfe wurden dort bereits 2004 erste Überlegungen angestellt, von Pauschalleistungen stärker zu am individuellen Bedarf orientierten Leistungen überzugehen. Daneben sollen für Leistungsberechtigte flexiblere Wechsel zwischen stationären und ambulanten Angeboten oder zwischen verschiedenen Anbietern möglich gemacht werden.
Das Projekt habe sich allen zwischenzeitlichen Schwierigkeiten zum Trotz so weit entwickelt, dass man ein Modulsystem und einen fertigen Entwurf zu einer Rahmenvertragsvereinbarung für den Bezirk Mittelfranken vorlegen könne. Diese Unterlagen sind ebenfalls in unserer Dokumentation zu finden.
Mit dem hohen Praxisbezug ihres Vortrages, der dialogischen Vortragsweise und der langjährigen Erfahrung beider Referenten wurde dieser Teil der Veranstaltung von vielen Teilnehmenden als Höhepunkt wahrgenommen.
Programm
Das barrierefrie Programm zur Veranstaltung können Sie hier herunterladen: