Kennzeichen der ICF-Orientierung nach § 118 SGB IX n.F.
Was sind die wesentlichen Kennzeichen eines Bedarfsermittlungsinstruments, damit dieses als ICF-orientiert betrachtet werden kann?
Wechselwirkungsmodell funktionaler Gesundheit
Im BTHG wird nur in § 118 bei der Bedarfsfeststellung ausdrücklich auf die ICF-Orientierung und auch hier nur auf eine der Domänen der ICF verwiesen. Grundsätzlich ist unter ICF-Orientierung jedoch zu verstehen, dass das Wechselwirkungsmodell funktionaler Gesundheit – folglich ein bio-psycho-soziales Modell – die Grundlage des Verständnisses von Beeinträchtigungen und Behinderung im BTHG wird. Die ICF ist ein Klassifikationssystem, das eine systematische Beschreibung von Einflussfaktoren auf Gesundheit unter Einbeziehung der Ebene der Körperstrukturen, der Körperfunktionen (einschließlich der mentalen Funktionen), der Ebenen der menschlichen Aktivitäten und der Teilhabe wie der Umwelt (sächlich und personal) wie der personenbezogenen Faktoren (z.B. Alter, Geschlecht) darstellt. Die funktionale Beschreibung von Beeinträchtigungen umfasst in der ICF folglich alle Ebenen.
ICF-orientiertes Bedarfsermittlungsinstrument
Ein ICF-orientiertes Bedarfsermittlungsinstrument hat folglich alle Ebenen zu berücksichtigen, auf jeden Fall ist jedoch die Domäne der Aktivitäten und Teilhabe in der Beschreibung des Bedarfes für den Menschen mit Beeinträchtigungen/der antragstellenden Person laut BTHG zu berücksichtigen. Dabei wäre aus der Nennung der Unterkapitel – der Lebenssituationen und Lebensbereiche der Aktivitäten und Teilhabe – im BTHG zu schließen, dass ausdrücklich jedes dieser Unterkapitel in der Bedarfsfeststellung zu berücksichtigen ist, d. h. die für die Beschreibung des Bedarfs individuell wichtigen Items zu benennen sind.
Von großer Bedeutung ist jedoch, dass ICF-Orientierung bedeutet, dass nicht aus einzelnen Items Bedarfe ermittelt werden können. ICF-Orientierung fordert grundsätzlich eine Gesamtschau aller Ressourcen und Beeinträchtigungen/Barrieren und ist als Beschreibung der aktuellen Situation (Leistung) und auch der angezielten Situation (Leistungsfähigkeit) des Betroffenen in seiner Umwelt zu verstehen. Gesamtplanung/Teilhabeplanung geht hiervon aus und muss ausgehend von den Wünschen zu einer Vereinbarung von Zielen und zu Art und Umfang von Leistungen kommen. Ausdrücklich verweist ICF-Orientierung darauf, dass nicht aus einzelnen Items Leistungen abgeleitet werden können.
Komponenten und Wechselwirkungen der ICF
Ein ICF-orientiertes Instrument gestattet, alle Dimensionen und Komponenten des bio-psycho-sozialen Modells, das durch die ICF operationalisiert wird, einschließlich ihrer Wechselwirkungen zu erfassen. § 13 SGB IX verdeutlicht, was damit gemeint ist. Ein solches Instrument ist daran zu erkennen, dass es systematisch und konsequent die Begriffe des bio-psycho-sozialen Modells verwendet.
Kennzeichen eines ICF-orientierten Bedarfsermittlungsinstruments
Das Instrument muss geeignet sein, die Komponenten des bio-psycho-sozialen Modells aus den vorhandenen Unterlagen (v. a. zu Schädigungen und Beeinträchtigungen der Funktionen) und aus einem Gespräch mit dem Betroffenen und ggf. seinen Bezugspersonen zu erfassen. Dabei soll das Instrument eine Hilfestellung sein, diese Komponenten sowohl aus der Perspektive des Betroffenen bzw. seiner Bezugspersonen als auch aus fachlicher Sicht zu beschreiben. Die Form dafür ist das Gespräch, ggf. unter Verwendung von Befunden (z. B. Arztberichten). Dabei sind stets alle Lebensbereiche zu berücksichtigen.
Ein ICF-orientiertes Instrument ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass es einzelne Items aus der ICF abfragt oder gar deren vollständige Erfassung anstrebt. Es beinhaltet auch, wie jemand Aktivitäten ausführen oder Teilhabe erfahren könnte, wenn sich Kontextfaktoren ändern.
Ein ICF-orientiertes Instrument gestattet es, die Gesprächsinhalte zu ordnen und jeweils den Strukturen, den Funktionen, den Aktivitäten, der Teilhabe oder den Kontextfaktoren zuzuordnen und zu dokumentieren. Die ICF dient hier auch als gemeinsame Sprache für den interdisziplinären Dialog. Durch Zuordnung zu den Komponenten können verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten abgeleitet werden: z. B. auf der Ebene der Körperstrukturen und Funktionen durch medizinisch-therapeutische Maßnahmen bzw. der med. Rehabilitation, durch Abbau von Barrieren (auch psychosozialer Art), durch Förderfaktoren im Bereich der Teilhabe, z.B. durch persönliche Assistenz usw.
Ein ICF-orientiertes Instrument fördert auch, dass keine wesentlichen Dimensionen vergessen werden.
Unterschiede vorhandener Instrumente
Ein solches Instrument dient nicht primär zur Herstellung eines objektiven, messbaren Befundes, da die ICF kein Assessmentinstrument ist. Sie dient vielmehr der individuellen personbezogenen Lebenssituationsbeschreibung. Deshalb sind Instrumente, die nur einzelne ICF-Items oder ihnen ähnliche Fragen verwenden, nur als Indikatoren für bestimmte Fragestellungen zu nutzen, z. B. das sog. Metzler Verfahren, um z. B. Schweregrade zu bestimmen, die zur Grundlage von Leistungsentscheidungen dienen können. Das ist mit der ICF selbst nicht möglich: Die Items stehen weder zueinander in einem metrisierbaren Verhältnis noch sind sie qualitativ gleichwertig oder gleichartig. Ein Beispiel für ein ICF-orientiertes Instrument ist z. B. der IHP 3.1., der im Rheinland entwickelt und angewendet wurde.
Wesentliche Voraussetzung der ICF-Orientierung
Natürlich gibt es unterschiedliche Grade und Formen, in denen die Bedarfsermittlung ICF-orientiert sein kann. Deshalb wird man nicht von nur einem Instrument als vollständig und perfekt an der ICF orientiert ausgehen können. Entscheidend ist, dass die Behinderung und mögliche variierende Kontextfaktoren am Ende des Bedarfsermittlungsverfahrens erkennbar und sprachlich exakt im biopsychosozialen Modell formuliert werden und dass der Klient die Möglichkeit hatte, im offenen Diskurs alle Komponenten mit zu erörtern.
Derzeit liegen mehrere Erhebungsinstrumente in unterschiedlichen Entwicklungsstadien vor, die für sich beanspruchen, ICF-orientiert zu sein. Inwieweit sie dies tatsächlich sind, wird sich nicht zuletzt bei der praktischen Handhabung und auch bei der Evaluation erweisen müssen.