ICF-Orientierung bei komplex beeinträchtigten Personen

BTHG-Kompass

ICF

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) soll eine international einheitliche Kommunikation über die Auswirkungen von Gesundheitsproblemen unter Beachtung des gesamten Lebenshintergrunds eines Menschen ermöglichen. Die ICF ist gemäß BTHG insbesondere Bezugspunkt der Bedarfsermittlung im Eingliederungshilferecht und Grundlage des neu definierten Behinderungsbegriffs.

ICF-Orientierung bei komplex beeinträchtigten Personen

Den abstrakten Ausführungen der DVfR in der Stellungnahme zur ICF-Nutzung (DVfR 2017) kann einerseits sicherlich zugestimmt werden. Dies gilt aber nur für den Personenkreis der Menschen mit Behinderungen, der sich aktiv in das private und gesellschaftliche Geschehen einbringen kann. Ich habe bisher noch keine Hinweise zur ICF-Orientierung gelesen für einen Personenkreis, der als komplex beeinträchtigt beschrieben werden kann und wo der Unterstützungsbedarf für eine auch von diesen Menschen gewünschte, aber nicht finanzierte Aktivierung hoch ist. Gibt es konkrete Hinweise, wie die ICF-Grundsätze auch diesen Menschen zugutekommen und wie der für die Aktivierung ihrer Wünsche erforderliche Bedarf festgestellt wird? Oder haben alle schon die Position eingenommen, dass dieser Personenkreis sowieso in der Hilfe zur Pflege (SGB XII) landet, wo die ICF-Kriterien keine Rolle spielen?

Portraitfoto von Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann

© Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann

Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann

Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann

ICF-Anwendung für Menschen mit schweren Behinderungen

Mir sind keine Überlegungen, Konzepte, theoretischen Abhandlungen oder Anwendungen zur ICF bekannt, die Menschen mit schweren und sehr schweren Behinderungen nicht einbeziehen oder bei denen erkennbar wäre, dass diese Personengruppe von der Verwendung des biopsychosozialen Modells bzw. der ICF ausgeschlossen oder dadurch benachteiligt wäre. Im Gegenteil: Durch die ICF kann sowohl die Behinderung in jedem Schweregrad beschrieben als auch diese zur Grundlage von Bedarfsermittlungen und damit von Hilfe-, Förder-, Unterstützungs-, Teilhabe- und Gesamtplänen gemacht werden.

In der ICF wird die Wechselwirkung zwischen Schädigungen der Körperstrukturen und Funktionen, der Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe und den Kontextfaktoren, die als Barrieren oder als Förderfaktoren wirken können, beschrieben. Dieses Konzept wird auch in § 2 des SGB IX in der neuen Fassung des BTHG dem gesetzlichen Behinderungsbegriff zugrunde gelegt. Bei komplex und schwer mehrfachbehinderten Menschen kann man mittels des biopsychosozialen Modells klar herausarbeiten, dass bei dieser Personengruppe oft schwere Schädigungen vorliegen, dass aber dennoch Teilhabe möglich ist. Wie dies der Fall sein kann, hängt nach diesem Modell dann lediglich davon ab, ob diesen Menschen entsprechende Unterstützung im Sinne von Förderfaktoren zur Verfügung gestellt wird.

So kann auch ein Mensch mit schwerer Cerebralparese, der über keine willkürliche Motorik verfügt, nicht sprechen und nicht selbst essen und schlucken kann, die Teilhabe an einer Tagesstruktur, an Veranstaltungen, am Leben in einer Gruppe oder auch mit zusätzlicher Assistenz in der Familie ermöglicht werden, wenn Einrichtungen und Dienste bzw. persönliche Assistenz (Kontextfaktoren als Förderfaktoren) vorhanden sind und die Umgebung, in der er sich aufhalten möchte, barrierefrei ist. Auch gehört dazu z. B. ein Rollstuhl, eine Sitzschale, ggf. auch ein Kommunikationshilfsmittel usw. Dies gilt analog auch für Menschen mit schweren geistigen Behinderungen und mit herausforderndem Verhalten, wie z. B. Menschen mit schwerem Autismus, oder auch nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma, ggf. im Wachkoma.

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