ICF-Orientierung bei komplex beeinträchtigten Personen
Den abstrakten Ausführungen der DVfR in der Stellungnahme zur ICF-Nutzung (DVfR 2017) kann einerseits sicherlich zugestimmt werden. Dies gilt aber nur für den Personenkreis der Menschen mit Behinderungen, der sich aktiv in das private und gesellschaftliche Geschehen einbringen kann. Ich habe bisher noch keine Hinweise zur ICF-Orientierung gelesen für einen Personenkreis, der als komplex beeinträchtigt beschrieben werden kann und wo der Unterstützungsbedarf für eine auch von diesen Menschen gewünschte, aber nicht finanzierte Aktivierung hoch ist. Gibt es konkrete Hinweise, wie die ICF-Grundsätze auch diesen Menschen zugutekommen und wie der für die Aktivierung ihrer Wünsche erforderliche Bedarf festgestellt wird? Oder haben alle schon die Position eingenommen, dass dieser Personenkreis sowieso in der Hilfe zur Pflege (SGB XII) landet, wo die ICF-Kriterien keine Rolle spielen?
ICF-Anwendung für Menschen mit schweren Behinderungen
Mir sind keine Überlegungen, Konzepte, theoretischen Abhandlungen oder Anwendungen zur ICF bekannt, die Menschen mit schweren und sehr schweren Behinderungen nicht einbeziehen oder bei denen erkennbar wäre, dass diese Personengruppe von der Verwendung des biopsychosozialen Modells bzw. der ICF ausgeschlossen oder dadurch benachteiligt wäre. Im Gegenteil: Durch die ICF kann sowohl die Behinderung in jedem Schweregrad beschrieben als auch diese zur Grundlage von Bedarfsermittlungen und damit von Hilfe-, Förder-, Unterstützungs-, Teilhabe- und Gesamtplänen gemacht werden.
In der ICF wird die Wechselwirkung zwischen Schädigungen der Körperstrukturen und Funktionen, der Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe und den Kontextfaktoren, die als Barrieren oder als Förderfaktoren wirken können, beschrieben. Dieses Konzept wird auch in § 2 des SGB IX in der neuen Fassung des BTHG dem gesetzlichen Behinderungsbegriff zugrunde gelegt. Bei komplex und schwer mehrfachbehinderten Menschen kann man mittels des biopsychosozialen Modells klar herausarbeiten, dass bei dieser Personengruppe oft schwere Schädigungen vorliegen, dass aber dennoch Teilhabe möglich ist. Wie dies der Fall sein kann, hängt nach diesem Modell dann lediglich davon ab, ob diesen Menschen entsprechende Unterstützung im Sinne von Förderfaktoren zur Verfügung gestellt wird.
So kann auch ein Mensch mit schwerer Cerebralparese, der über keine willkürliche Motorik verfügt, nicht sprechen und nicht selbst essen und schlucken kann, die Teilhabe an einer Tagesstruktur, an Veranstaltungen, am Leben in einer Gruppe oder auch mit zusätzlicher Assistenz in der Familie ermöglicht werden, wenn Einrichtungen und Dienste bzw. persönliche Assistenz (Kontextfaktoren als Förderfaktoren) vorhanden sind und die Umgebung, in der er sich aufhalten möchte, barrierefrei ist. Auch gehört dazu z. B. ein Rollstuhl, eine Sitzschale, ggf. auch ein Kommunikationshilfsmittel usw. Dies gilt analog auch für Menschen mit schweren geistigen Behinderungen und mit herausforderndem Verhalten, wie z. B. Menschen mit schwerem Autismus, oder auch nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma, ggf. im Wachkoma.
Die ICF und der neue Behinderungsbegriff des BTHG
Mit Hilfe des bio-psycho-sozialen Modells kann klargemacht werden, dass es keine Menschen gibt, die nicht teilhabefähig wären: Alle Menschen können in irgendeiner Form am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Die ICF hilft zu begreifen, dass man von der Schwere der Behinderung eben nicht auf die Folge einer fehlenden Teilhabemöglichkeit schließen darf. Dies ist im übrigen auch vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt. Im Bereich der Partizipation/Teilhabe mit ihren neun Lebensbereichen lassen sich für alle Lebensbereiche konkrete Teilhabemöglichkeiten ermitteln. Die Ermöglichung dieser Teilhabe hängt aber von den Ressourcen ab, die dem Menschen zur Verfügung gestellt werden. Diese kann man mit Hilfe der ICF identifizieren.
Dennoch begegnen uns Auffassungen, dass Menschen mit schweren Beeinträchtigungen als reine „Pflegefälle“ betrachtet werden und, falls die Familie eine Versorgung nicht leisten kann, in einer Pflegeeinrichtung untergebracht werden. Diese Tendenz ist bei manchen Kostenträgern zu erkennen. Gerechtfertigt wird dies mit dem Argument, dass diese Menschen hauptsächlich nur Pflege, nicht aber Eingliederungshilfe benötigen. Gerade diese Auffassung kann sich aber nicht auf die ICF bzw. das bio-psycho-soziale Modell der WHO stützen. Denn immer dann, wenn relevante Teilhabeziele mit Hilfe der ICF identifiziert, verfolgt und erreicht werden können, die natürlich bei schwer Betroffenen anders aussehen als bei nur leicht behinderten Menschen, besteht ein Anspruch auf Eingliederungshilfe. Leistungen der Eingliederungshilfe sind in diesem Sinne Förderfaktoren, die eine Teilhabe unabhängig von der Schwere ermöglichen können.
Probleme in der Anwendung der ICF
Nicht immer wird die ICF konsequent und im umfassenden Sinne angewendet. Es ist auch denkbar, dass sie missbraucht wird, z. B. in Form einer Fehlnutzung zur Rechtfertigung von Kosteneinsparungen. Dies kann man aber nicht dem Konzept selbst anlasten, sondern stellt einfach einen falschen Gebrauch dar. Mit Hilfe eines korrekten Gebrauchs des biopsychosozialen Modells kann man aber dagegen sehr gut vorgehen. Denn aus der ICF lassen sich keine Normvorgaben ableiten, die Menschen von der Teilhabe ausschließen.
Ein weiteres Problem kann darin bestehen, dass die Nutzung der ICF nicht einfach ist und nicht alle Akteure damit wirklich vertraut sind. Hier können nur Schulungen und Fortbildungen helfen. Es zeigt sich auch, dass Betroffene und ihre Bezugspersonen die ICF oft nicht selbst gut nutzen können, da dies recht komplex sein kann. Sie benötigen deshalb in manchen Fällen Unterstützung bei der korrekten Anwendung.
Zusammenfassend ist aber festzustellen, dass gerade die ICF helfen kann, Menschen mit komplexen und schweren Behinderungen Teilhabe zu ermöglichen und ihnen zu den notwendigen Unterstützungsleistungen zu verhelfen.
Materialien
- DVfR (2017): Stellungnahme der DVfR zur ICF-Nutzung bei der Bedarfsermittlung, Bedarfsfeststellung, Teilhabe- und Gesamtplanung im Kontext des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). Download des Dokuments im PDF-Format (PDF-Dokument) (24.10.2019).