Core-sets in der Bedarfsermittlung
Was ist bei der Einbeziehung von Core-sets im Rahmen der Bedarfsermittlungsinstrumente hinsichtlich der ICF-Orientierung zu beachten?
Bedeutung und Anwendung von Core-sets
ICF-Core-sets sind Gruppen von Items, die beanspruchen, die wesentlichen Merkmale vergleichbarer Gruppen abzubilden, also z. B. bei bestimmten Behinderungsarten, Hilfsbedarfsgruppen etc., die gemeinsam und typischerweise vorliegen und diese Gruppe charakterisieren können. Die Idee bei der Verwendung von Core-Sets ist es v. a., durch die Selektion typischer Items und deren Zusammenfassung zu Sets die Bedarfsermittlung oder die Hilfsplanung zu vereinfachen und zu verkürzen. Die Hypothese dabei ist, dass es ausreicht, eine kleine, aber charakteristische Menge von Items zu erheben, um die Behinderung oder den Unterstützungsbedarf zu charakterisieren. Dies kann für einige Behinderungsbilder bis zu einem gewissen Abstraktionsgrad gelingen.
Erfahrungen in der Anwendung von Core-sets
Erfahrungen aus dem klinischen Kontext zeigen, dass sich anhand solcher Core-sets in Teamgesprächen fokussiert und strukturiert kommunizieren lässt und dass sich die Dokumentation vereinfacht, wenn man sich auf einige wesentliche Aspekte beschränkt. Allerdings ist es z. B. in der stationären klinischen Behandlung nicht gelungen, diesen ICF-Core-sets belastbar reproduzierbare Betreuungsaufwendungen gegenüberzustellen, die den tatsächlichen Aufwand wenigstens im Mittel ohne wesentliche Streuung abbilden. So sollten z. B. DRGs (diagnosis-related groups) daraus abgeleitet werden. Dies ist jedoch nicht gelungen.
Probleme und Grenzen bei der Anwendung von Core-sets
Analog ist es auch in der Eingliederungshilfe nicht möglich, zuverlässig individuelle Unterstützungsbedarfe aus den Core-sets abzuleiten. Der Grund dafür liegt darin, dass Core-sets in der Regel die Kontextfaktoren nicht abbilden (können). Da aber die Kontextfaktoren von entscheidender Bedeutung für das Ausmaß der Teilhabeeinschränkung sind, z. T. sogar für die Möglichkeiten der Ausübung von Funktionen und Aktivitäten, verfehlen Core-sets ihr Ziel einer zutreffenden Charakterisierung von distinkten Gruppen von Menschen mit Behinderung.
Ferner sind die Items der ICF in ihrem Verhältnis zueinander weder qualitativ noch quantitativ exakt zu fassen. Distanzmaße fehlen weitgehend. Sie stellen eine Gliederung für ein hermeneutisches, nicht aber für ein metrisches Verfahren dar. Zudem ist die ICF in ihren Merkmalsausprägungen selbst für ein Assessment nicht brauchbar.
Von daher ist die Verwendung von ICF-Core-sets für die Bedarfsermittlung, Teilhabeplanung und v.a. die Bemessung des Unterstützungsbedarfes nicht möglich.
Core-sets in unterschiedlichen Instrumenten
Von einer Verwendung von Core-sets für ein Instrument zur Bedarfsermittlung im Sinne des § 13 SGB IX n.F.sind Assessmentinstrumente zu unterscheiden, die verschiedene Kompetenzen, Einschränkungen der Funktionen, der Selbständigkeit z. B. im Alltag erfassen sollen. Dazu gehören z. B. solche Messinstrumente wie der Barthel-Index, der FIM (Functional Independence Measure), der Funktionsfragebogen Hannover und zahlreiche andere. Solche Erhebungsinstrumente können Items der ICF in verschiedenen Präzisionsstufen verwenden, sind bislang aber nicht in der Lage, Aussagen zur Teilhabe zu machen bzw. diese aus dem Summenscore eines solchen Instrumentes abzuleiten.
Sie können hilfreich sein, um z. B. das Ausmaß der Einschränkung in den Aktivitäten des täglichen Lebens unter definierten Bedingungen zu messen, können aber z. B. keine belastbaren Aussagen über Unterstützungsbedarfe machen. Auch ist in diesen Instrumenten keine Aussage zur Selbstbestimmung oder zu individuellen Kontextfaktoren zu finden, da diese dort nur standardisiert berücksichtigt werden können.
Vorgaben des BTHG
Der Gesetzgeber macht umfangreiche Vorgaben für die Bedarfsermittlung: sie muss personbezogen, individuell und umfassend sein und die Wünsche des Betroffenen berücksichtigen. Dies ist nur in einem hermeneutischen und diskursivem, nicht aber einem metrisch orientierten Verfahren möglich.
Dennoch können Assessmentinstrumente eine Hilfe dafür sein, die Beeinträchtigungen operationalisiert und standardisiert zu erfassen, jedoch nicht im SGB IX vorgesehenen Umfang und Qualität.
Analog sind Core-Sets zu bewerten. Sie sind jedenfalls nicht geeignet, als alleinige oder auch nur vorwiegende Basis für eine Bedarfsermittlung und Teilhabe- bzw. Gesamtplanung zu dienen, wie sie das Gesetz vorsieht. Dies gilt auch für die Bestimmung von Gruppen gleichen Hilfebedarfes.
Bedeutung und Anwendung von Core-sets
Ein Core-set ist als eine Auswahl aus den ICF-Items zu verstehen, die von Expert/innen getroffen wird, um die Anwendung zu erleichtern.
ICF-Orientierung im Rahmen eines Core-sets bedeutet, eine funktionale Auswahl zu treffen – d. h. die Absicht/Interessenposition ist hier immer zu verdeutlichen.
- Soll ein Core-set zur Beschreibung von spezifischen Gesundheitsproblemen unter Berücksichtigung aller Domänen dienen (Diagnostik /Anamnese)?
- Soll ein Core-set zur Beschreibung der Rehabilitationsleistungen für eine bestimmte diagnostische Gruppe/Zielgruppe genutzt werden (Leistungskatalog)?
In diesen beiden Funktionen sind bisher in Deutschland häufig Core-sets für Behandlungsleistungen oder medizinische bzw. berufliche Rehabilitation entstanden.
Neuerungen durch das BTHG
Im Kontext des § 118 des BTHG wird eine neue Interessenposition verankert – der Bedarf an Leistungen zur Teilhabe soll zukünftig über eine noch nicht ausdrücklich definierte Einschätzung des Ausmaßes der Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe erfolgen. Dies stellt im Rahmen der Eingliederungshilfe die Möglichkeit her, den Zugang – und auch ggfs. den Ausgang aus dem Leistungssystem eigenständig zu definieren.
Inwieweit hier im Kontext von hohem ökonomischen Steuerungsdruck in der Eingliederungshilfe Instrumente entwickelt werden, die restriktiv den Zugang beschränken, ist zu beobachten. Bei der Bedarfsfeststellung ist insofern darauf zu achten, dass keine Vorabauswahl der ICF-Items der Aktivitäten und Teilhabe getroffen wird. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Intensität der Beeinträchtigung für diese Zugangssteuerung eine Bedeutung hat. Insofern ist davor zu warnen, dass zusammenfassend für mehrere Items – oder sogar regelwidrig für die „Überschriften“ - d. h. die Lebenssituationen und Lebensbereiche der Domänen der Aktivität und Teilhabe eine Intensitätsaussage getroffen wird.
Grundsätzlich ist hier nochmal darauf zu verweisen, dass Bedarfsfeststellung noch keine Planung der Hilfen darstellt. Diese ist personenzentriert als Gesamt-/Teilhabeplan gemeinsam mit dem Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Wünsche, der Vereinbarung von Zielen für den Vereinbarungszeitraum und der Abstimmung von Art und Umfang der Leistungen (wie aus einer Hand) umzusetzen.